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Es vergingen noch zwei weitere Tage, in denen Atsumu mit seiner nun abgeschwächten Heat zu kämpfen hatte.
 
Dass er gegen die allerwichtigste Regel verstoßen hatte, behielt er wie ausgemacht für sich. Auch, wenn er und Osamu sich normalerweise immer absolut alles erzählten, brauchte dieses Mal sein Bruder nichts von dieser Sache wissen.
 
Er wusste, dass er einen Fehler begangen hatte, doch trotzdem konnte er nicht aufhören, an Kiyoomi zu denken. Der Junge, der so unerreichbar war, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, verweilte dort schon seit Tagen, und auch, als er seine Phase endlich hinter sich gebracht hatte, war da ganz schwach und klein noch dieses Verlangen in ihm, hinauf zu gehen und ihn zu sehen.
 
Doch es war ihm ja verboten, den Hausteil der Königsfamilie zu betreten, wobei er sich hierbei möglicherweise noch immer an der Ausrede, er hätte sich verlaufen, bedienen könnte.
 
Osamu bemerkte, dass er über etwas nachdachte, weshalb er sich zu ihm herunterbückte, ihm einen fragenden Blick zuwarf. „Ist alles okay?"
Atsumu nickte. „Ich bin nur müde", log er.
„Du solltest dich auch noch ausruhen. Du hast schwierige Tage hinter dir."
 
Der Blonde nickte erneut, dieses Mal schweigend, drehte sich auf die andere Seite, sodass sein Gesicht gen Wand gerichtet war, während er sich in seine Decke kuschelte.
 
Er konnte nicht beschreiben, wie sehr er sich wünschte, den Dunkelhaarigen bei sich zu haben.
 
 
 
Am Nachmittag des nächsten Tages, nachdem er auch seine Erholungsphase so ziemlich überstanden hatte, beschloss er, in den altbekannten Innenhof zu spazieren, um zu hoffen, dort dem Jüngsten der Familie zu begegnen.
 
Seine Gefühle überkamen ihn, als er Kiyoomi dort stehen sah, auf dem Zaun abgestützt, in das Gras, das vom Schnee bedeckt wurde, sehend, als wartete er darauf, dass daraus wieder Blumen wuchsen.
 
Atsumu zog den Reißverschluss seines Mantels zu, trat etwas näher, und als er sich gerade dazu überredet hatte, etwas zu sagen, bemerkte er, dass sich sein Mund so trocken anfühlte – viel zu trocken, um ordentlich reden zu können.
 
„Ist das hier unser Treffpunkt?", fragte Kiyoomi plötzlich, während er nach einem längeren Grashalm griff, den Schnee von diesem wischte und dann begann, ihn langsam zu zerstückeln.
 
„W-Woher wusstet Ihr, dass ich es bin?", erkundigte sich Atsumu nervös, seine Stimme kam nur brüchig aus ihm.
 
Kiyoomi lächelte, drehte sich zu ihm. „Dein Geruch", sagte er.
 
Der etwas Ältere wurde etwas rot, sah zur Seite, während er sich mit der linken Hand am rechten Arm kratzte. Er wusste nicht, wieso sich sein Körper in der Gegenwart des Alphas so seltsam verhielt, doch es machte ihm etwas Angst – normalerweise war dieses Verhalten, das er an den Tag legte, nur bei Mates vorzufinden, und da er und Kiyoomi ganz offensichtlich alles andere als verbunden waren, konnte er sich auf keiner Weise vorstellen, wieso er sich dennoch zu dem Dunkelhaarigen hingezogen fühlte.
 
Kiyoomi deutete mit dem Kopf, dass er zu ihm kommen sollte, was Atsumu auch tat, ihm dann dabei zusah, wie er sich mit dem Grashalm beschäftigte, während er konzentriert ein Blatt Papier vor sich ansah, auf dem etwas geschrieben stand.
 
Von seiner Position aus konnte der Omega nicht ausmachen, was da drauf stand, doch er war zu neugierig, um nicht nachzufragen.
 
„Was habt Ihr da?"
 
Der Dunkelhaarige zögerte, hob die Schultern. „Das ist ein Lied, das meine Schwester mir öfters vorgesungen hat, wenn ich nicht schlafen konnte, als ich noch kleiner war...", erzählte er.
„D-Darf ich es sehen?", fragte Atsumu, worauf Kiyoomi nickte.
 
Er las über die Zeilen, dabei zog er verwirrt die Augenbrauen zusammen, als er beim Refrain ankam.
Das konnte doch nicht sein, oder?
 
„Wie... aber..."
„Was ist?", fragte Kiyoomi, doch Atsumu gab ihm als Antwort bloß ein Herumfuchteln von Händen und verwirrte Gesichtsausdrücke, weshalb er die Augenbrauen abwartend in die Höhe zog. „Atsumu?"
„D-Das kann nicht sein."
 
Kiyoomis Blick wirkte noch verwirrter. „Von was-"
„Dieser Text... den hab ich geschrieben."
 
Die Beiden starrten sich an, während Atsumu den Zettel hoch hielt.
 
Stille.
 
„Das kann nicht sein, ich-"
„Mein Großvater hat es immer meinem Vater vorgesungen, es war eine andere erste Strophe, und mein Vater hat es uns immer vorgesungen, und dann hat er mich darum gebeten, das Lied fertig zu schreiben, bevor..." Er unterbrach sich, legte den Zettel vor Kiyoomi ab.
 
Eine Weile blieb es wieder ruhig, bevor Atsumu wieder zu sprechen begann, da der Alpha schien, als würde er absolut nichts mehr verstehen.
 
Ich habe mir den Refrain ausgedacht... wie kann es sein, dass Ihr den schon davor kanntet?"
 
Kiyoomi hob die Schultern. „I-Ich... E-Es tut mir Leid, ich-"
„Wieso tut es Euch Leid?", unterbrach Atsumu ihn.
 
Der Dunkelhaarige sah zu Boden, doch spähte von dort aus wieder zu ihm, ohne den Kopf zu bewegen. „Ich dachte, du wärst sauer."
„Wieso sollte ich das? Es ist unmöglich, dass Ihr den geklaut habt..."
 
Stille. Bloß das Zischen des Windes war zu hören.
 
Irgendetwas stimmte hier nicht – zuerst die ganze Sache mit Heat und Rut, und jetzt dachte er sich Zeilen eines Liedes aus, das schon längst existiert hatte? Dabei war er doch so stolz gewesen, dass ihm dieser Refrain eingefallen war, und nun war dies binnen zweier Minuten ruiniert worden.
 
„Atsumu...", begann Kiyoomi nach längerer Zeit. „Ich... ähm..."
„Es ist okay, wirklich..."
 
Kiyoomi kratzte sich verlegen am Hinterkopf, sah nun wieder vollständig zu ihm. „Darf ich dich was fragen?"
„Ja."
„Was ist mit deinem Vater passiert?"
 
Atsumus Augen weiteten sich für einen Moment, bevor er zur Seite sah, nach seinem Handgelenk griff, es drückte – eine Angewohnheit, die er oft tat, wenn er über etwas nicht reden wollte, und oft genug war es schon passiert, dass er danach auf dieser Stelle Rot geworden war.
 
„Er ist im Krieg gestorben. Bei einer Explosion." Er presste die Lippen zusammen, nickte, als würde er sich damit selbst bestätigen, dass es wahr war. „Seine Leiche wurde nie gefunden, aber eben auch kein lebender Körper."
 
Kiyoomi legte eine Hand auf seine Schulter, strich von dieser bis zu seiner Wange hinauf, die er sanft streichelte. „Tut mir Leid."
„Schon okay. Ich will nicht weiter drüber reden, okay?"
 
Etwas verunsichert zog Kiyoomi seine Hand zurück, griff plötzlich danach, als hätte er sich verletzt, verzog dabei das Gesicht.
 
„A-Alles okay?", fragte Atsumu, ließ sein Handgelenk nun endlich los, richtete den Blick auf Kiyoomis rechte Hand, die nun an exakt derselben Stelle rot anschwoll.
 
Der Omega riss die Augen auf, starrte ihn an, schluckte. „Was zur..."
„Was?"
„Ich hab mir grad-"
„Ich weiß, ich hab's gesehen."
 
Atsumu sah zwischen seinem Gesicht und seiner Hand Hin und Her, während sich plötzlich die Welt um ihn herum zu drehen begann.
 
„Was geschieht hier?", fragte er, trat vorsichtig einen Schritt zurück.
„Ich weiß es nicht...", sagte Kiyoomi leise, während er sich weiterhin die verfärbte Stelle hielt.
 
Es war wieder, als würde der Jüngere wissen, was er fühlte, als Atsumu plötzlich schwindelig wurde, er sich gegen eine der Säulen abstützte und Kiyoomi ihn sanft auffing, als er zur Seite rutschte.
 
„Atsumu?", fragte er, strich ihm über die Wange, als ein sanftes Kribbeln in seinem Bauch entstand. Es war, als würde sich etwas in ihm verändern, als er sich vor auf den kalten Steinboden setzte, den Omega vorsichtig auf seinen Oberschenkeln ablegte, sodass er nun auf ihm lag, während er dessen Füße hochlagerte, seinen Kopf auf seinem linken Arm ablegte, dabei nicht aufhörte, über die gerötete Wange des Kleineren zu streichen.
 
„I-Ich...", begann der Blonde.
 
Kiyoomi betrachtete ihn, fuhr seine Kontur entlang, berührte seine Nasenspitze, fuhr sogar einmal über seine Augenlider. Er verspürte etwas, das er noch nie zuvor gespürt hatte, und plötzlich schien die Welt wieder still zu stehen, er sah alles wieder klar und deutlich, und da schien es für diesen einen Moment, als hätte er das gefunden, nach dem so viele Menschen ihr Leben lang suchten.
 
Atsumu öffnete langsam seine Augen, betrachtete ihn erschöpft.
 
Kiyoomi sah in diese schönen, braunen Augen, die zwar nur halb geöffnet waren, aber in diesem Moment für ihn aussahen, als würden sie in allen Farben des Universums strahlen, als wären sie dafür geschaffen, dass er sie ansehen konnte, dass er sich in ihnen verlieren konnte.
 
„W-Was ist passiert?", fragte der Omega leise und verwirrt, doch Kiyoomi gab ihm keine Antwort, so konzentriert war er auf diese Augen, die plötzlichen Pheromone, die sowohl er als auch Atsumu ausstießen – jedoch waren es nicht seine gewöhnlichen, denn diese wirkten unbekannt, neu, geheimnisvoll.
 
„Kiyoomi?"
 
Der Jüngste der Königsfamilie griff wieder nach seiner Wange, dieses Mal legte Atsumu seine Hand auf seine, sah ihm dabei ebenso tief in die Augen, wie er es soeben bei ihm getan hatte, als würde er dasselbe sehen, was auch er schon gesehen hatte.
 
„Ich will dich", sagte Kiyoomi da plötzlich. „Ich will dich...", wiederholte er leiser.
 
Atsumu schluckte, betrachtete ihn unsicher. „W-Was-"
„Ich will, dass du mein Omega wirst."

A Million Dreams - SakuAtsuWhere stories live. Discover now