5. Mysteriöse Unbekannte

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Der Bus raste, ein wenig zu schnell für meinen Geschmack, aber das war mit den Italienern eben so, über die kurvige Landstraße und in der Ferne konnte ich bereits die Stadtmauern von Volterra erkennen. Ich würde wieder einige Einkäufe erledigen, wobei Elisabetta so freundlich gewesen war und mir erlaubt hatte, den Bus zu nehmen. Erst hatte ich gedacht, sie hätte wirklich Gefallen daran gefunden, mich zu schonen, doch dann hatte sie mir erklärt, sie bräuchte die Einkäufe einfach so schnell wie möglich, da heute Abend einige externe Gäste kommen würden, um im Restaurant zu essen. Mir war das nur recht, einmal wieder von der Azienda wegzukommen, außerdem mochte ich die Altstadt Volterras sehr. Steinige, gepflasterte Straßen, wo man nur hinsah mittelalterliche Gebäude aus Stein und jeder dritte Laden ein Schmuckgeschäft, das handgefertigte Stücke aus Alabaster verkaufte, eine Art Gips, der in dieser Gegend früher sehr beliebt gewesen war. Warum ich mich hier bereits so auskannte? Ich war mit meiner Familie oft hier auf Urlaub gewesen und so hatte ich die Toskana als absolute Touristin kennengelernt. Nun sah ich natürlich auch die Schattenseiten eines Lebens hier, zu denen ich definitiv die hügelige Landschaft zählen würde. Für eine Woche Urlaub ja ganz schön – für Besorgungen ohne Auto nur lästige Höhenmeter, die einen abends müde ins Bett fallen ließen. Dennoch konnte ich mich nicht beschweren, denn ich war hier. Ich war am Leben und ich würde das Beste draus machen. Obwohl, wen versuchte ich hier eigentlich anzulügen?

„Grazie, arrivederci!", verabschiedete ich mich von einem netten Herrn um die 60, der mir meinen Einkauf liebevoll eingepackt hatte. Elisabetta produzierte sehr vieles selbst, so zum Beispiel Olivenöl und Brot und natürlich Wein, denn welcher Bauernhof hier war nicht auf die Produktion des beliebten Chianti spezialisiert? Einige Grundlebensmittel benötigte aber auch sie für ihre Gerichte und diese hatte ich soeben besorgt.

Langsam schlenderte ich durch die teils sehr engen Gassen der Stadt und wieder einmal dachte ich an Anica. Vermisste sie mich oder hatte sie vielleicht wirklich schon mit mir abgeschlossen? In meinem Kopf wurde es wieder laut und ich wollte einfach nur weg hier. Ein neues Leben hatte immer so... total neu und anders auf mich gewirkt, so als könnte man die eigene Vergangenheit einfach hinter sich lassen, sie aus seinem Gehirn löschen! Doch eigentlich war nichts davon möglich. Im Endeffekt war ich nur vor meinen Problemen davongerannt wie ein Feigling und das würde mir meine beste Freundin mit Sicherheit nie verzeihen. An dieser Stelle sehnte ich mich nach ihr, ihrer Nähe und der damit verbundenen Geborgenheit. Ich sehnte mich nach Nähe zu irgendjemandem, Hauptsache diese Person würde mich von meiner Einsamkeit ablenken, mich davon erlösen. Meine Entscheidung war aber schon längst gefallen: Ich brauchte niemanden mehr, ich war meine eigene Stütze. Und so schüttelte ich den Kopf über mein kurzes Einknicken und verließ den Kern Volterras durch das Stadttor, durch das ich vor wenigen Stunden noch gekommen war.

Während ich so die Straße entlang hinabwanderte, fing es zu meinem Bedauern jedoch plötzlich an, wie aus Kübeln zu schütten. Es blitzte und donnerte in der Ferne und meine altbekannte kindliche Angst vor Gewittern gewann die Oberhand. Ich wollte weg hier, irgendwo hinein, um das Unwetter abzuwarten und doch hatte ich noch etwa zwanzig Minuten Fußmarsch vor mir, den ich gleich fortsetzen müsste, um Elisabetta die Einkäufe noch rechtzeitig bringen zu können, denn den letzten Bus hatte ich in meiner Verplantheit bereits verpasst. Die schwarzen Wolken, die so plötzlich aufgezogen waren, wirkten leider ebenfalls nicht, als würden sie so schnell, wie sie gekommen waren, auch wieder verschwinden und so blieb mir wirklich nichts anderes übrig, als im strömenden Regen weiterzulaufen. So ein verdammter Mist!

„Ciao piccola, hai bisogno di un passaggio? Penso che non spioverà presto... Dove devi andare?" (Hallo Kleines, brauchst du eine Mitfahrgelegenheit? Ich denke nämlich, dass es nicht so bald aufhören wird, zu regnen. Wo musst du denn hin?) Ich schnellte herum und bemerkte erst jetzt, dass ein Auto neben mir angehalten hatte. Es handelte sich dabei um einen schwarzen Opel Corsa und hinterm Steuer saß eine junge Frau mit strahlend grünen Augen und langem dunklen Haar, die mich fragend anblickte. Ich war einige Sekunden wie erstarrt, was sie wohl amüsierte, denn sie schmunzelte, bevor sie meinte: „Se no, me ne vado adesso, perché ho ancora da fare..." (Wenn nicht, fahre ich jetzt weiter, denn ich habe noch zu tun.) Die letzten ihrer Worte wurden von einem lauten Donnergrollen übertönt und das war der Moment, in dem ich mich in Bewegung setzte und dankend einstieg, auch wenn mich die roten Nähte der Sitze abschreckten, mir Angst machten. Bullshit. So ein Angebot sollte ich wohl nicht ausschlagen, wenn ich nicht vollkommen durchnässt, überanstrengt und verängstigt bei der Azienda ankommen wollte und die Frau schien außerdem ganz nett zu sein, sie würde mich schon nicht entführen. Und wenn schon, was hätte ich denn noch zu verlieren?

Ich hatte Recht behalten in meiner Annahme. Diese Frau war wirklich freundlich und wir hatten die Fahrt über sogar ein wenig Smalltalk geführt. Ob sie bemerkt hatte, dass ich eigentlich gar nicht aus Italien stammte? Vermutlich schon, denn ich sprach die Sprache zwar fließend, jedoch musste man einen gewissen Akzent hören, ich hatte definitiv noch viel Luft nach oben. Ach, wie sehr ich Italienisch liebte. Ich hätte gerne noch so viel mehr über das System dahinter gelernt, doch diese Zeiten waren wohl vorbei. „Grazie mille, è stato davvero gentile portarmi qua!", bedankte ich mich und stieg aus dem Wagen. (Tausend Dank, es war wirklich nett, mich hierherzubringen.) Die Frau lächelte mir nochmal zu, verabschiedete sich und dann fuhr sie auch schon davon. Eine seltsame Begegnung, denn irgendwie kam mir diese Person sehr vertraut vor. Ach, wie ich meinen Kopf hasste, wenn er mir Streiche spielte.

Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen und die Abendsonne blitzte zwischen den vereinzelten Wolken hindurch und tauchte die Landschaft in ein sommerliches Rot. Ich war wieder mal auf das Dach meines Apartments geklettert. Von hier aus hatte ich den perfekten Ausblick über die Hügel und die Weinberge und Olivenhaine. Nur Elisabetta dürfte das nicht erfahren, denn sie würde mich vermutlich zu Kleinholz verarbeiten, wenn sie mitbekäme, dass ich über das Apartment über mir hierher geklettert war. Es befanden sich in diesem ehemaligen Stall nämlich zwei Ferienwohnungen – meine im Erdgeschoß und eben diese eine darüber auf dem wohl damaligen Heuboden. Nur wenn ich über den Balkon der zweiten Wohnung kletterte, war das Dach zu erreichen, das einen Vorsprung bildete, auf dem ich es mir jetzt gemütlich gemacht hatte. Meine Gedanken schweiften wie so oft ab, doch diesmal zu etwas anderem als gewöhnlich – ich musste plötzlich wieder an die Frau von vorhin denken. Wieso war sie mir so bekannt vorgekommen? Ich kannte hier doch wirklich niemanden! Aber es war leider nicht nur das, was mich stutzig machte. Ich empfand eine Sympathie gegenüber dieser Person, die sich irgendwie nicht normal anfühlte. Ich mochte diese Frau wirklich und dabei kannte ich sie nicht, kannte nicht mal ihren Namen! Außerdem war sie bestimmt um einiges älter als ich. Es wäre besser, ich würde sie jetzt einfach vergessen, denn vermutlich würde ich sie eh nie wieder sehen, wieso also an etwas denken, das absolut nicht relevant war? Energisch schüttelte ich meinen Kopf. Diese Gedanken wollte ich schnell wieder aus ihm verbannen. Ich sollte mich heute besser früher bettfertig machen, vielleicht wäre ich dann morgen mal etwas erholter. Und mit diesem Vorhaben im Hinterkopf kletterte ich wieder nach unten und machte mich auf den Weg ins Haus.

Fighting the demons from our pasts - Will love be enough?Where stories live. Discover now