39. Wer, wenn nicht du

461 38 2
                                    

POV Anja Kaltenegger

„Guten Morgeeeeeen!", dröhnte es in meine noch müden Ohren. Anica hatte gerade die Küche betreten, in der Federica, Sophie und ich mich bereits aufhielten. Falco war vorhin losgefahren, um Frühstück zu besorgen, darum bereitete ich gerade Kaffee zu – Fedè hatte noch so eine alte Filtermaschine, das dauerte also eine ganze Weile, bis jeder eine Tasse trinken konnte. „Warum zum Teufel bist du so gut gelaunt?", wollte Sophie verblüfft wissen. Scheinbar war Anica nämlich ein Morgenmuffel. Ich hatte gerade das Pulver in die Maschine gegeben, als ich vernahm: „Die Frage ist, wieso bist du es nicht? Nach der Nacht? Halleluja, ich wäre vor Glückshormonen gar nicht mehr zu bremsen!" Jetzt verschluckte ich mich an dem Glas Wasser, an dem ich gerade genippt hatte. Mein Lachen über Anicas Aussage konnte ich mir nur schwer verkneifen, denn dass meine beste Freundin und Sophie letzte Nacht sehr viel Spaß gehabt hatten, war auch für Falco und mich nicht zu überhören gewesen. Doch ich gönnte es den beiden, sie waren zwei erwachsene Frauen, sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Ein Blick zu Fedè genügte und ich hatte ihr vermittelt, dass sie gestern wirklich nicht gerade diskret gewesen waren, wodurch sich die ohnehin schon dunkle Färbung ihrer Wangen nochmal verstärkte. Es war ihr sichtlich unangenehm, darum entschied ich mich, einmal eine gute Freundin zu sein und so lenkte ich das Gespräch auf das Frühstück. Dieser Themenwechsel schien ihr mehr als willkommen und auch Sophie warf mir einen dankbaren Blick zu. Ich trat an den beiden Mädels vorbei, weil ich Geschirr aus dem Schrank holen wollte, da hörte ich, wie Anica murmelte: „Glaub nicht, dass das Gespräch jetzt beendet ist, ich will alle Details hören!" Wieder schmunzelte ich in mich hinein. Die beiden erinnerten mich so sehr an Federica und mich, als wir jung gewesen waren. Dass Sophie solch einer Konversation wirklich nicht auskommen würde, war mir absolut bewusst, vielleicht fragte ich Federica ja auch noch aus. Ganz so wie früher eben.

Nach dem Frühstück hatten wir relativ einstimmig beschlossen, den Tag hier zu verbringen und am Abend, wenn es draußen dann erträglicher wurde, nach San Gimignano zu fahren. Es handelte sich dabei um eine ähnliche Altstadt wie Volterra, mit dem einzigen Unterschied, dass San Gimignano für seine zahlreichen Türme bekannt war, die verschiedenste wohlhabende Familien früher erbauen hatten lassen, während sie sich gegenseitig bekriegt hatten. Wer den höchsten Turm besessen hatte, hatte das meiste Ansehen genossen. Ich fand besonders interessant, dass irgendwann festgelegt worden war, dass der höchste Turm jener des Rathauses bleiben musste, diese Regel war nicht mehr zu brechen gewesen. Anica und Sophie schienen von alldem nichts zu wissen, weshalb ich sie auf dem Gebiet kurz briefte. „Da spricht eindeutig die Geschichtelehrerin aus dir", lachte Sophie, doch ich wusste, dass sie das nicht böse meinte, es freute mich sogar, dass sie endlich wieder zu ihrer humorvollen Art zurückgefunden hatte. So wie wir sie da am ersten Tag hier vorgefunden hatten, hatte sie mir ja wirklich leidgetan. Schon in dem Brief, den sie uns vor einigen Wochen zukommen hatte lassen, hatte ich richtig Mitleid mit ihr bekommen, obwohl ich damals nicht die leiseste Ahnung von dem gehabt hatte, was wirklich passiert war. Ich hatte gestern vor dem Einschlafen auch mit Falco noch lange über Sophie geredet. Von der Entführung wussten wir beide, das hatten wir damals live mitbekommen, ich vor allem, denn sie war da gerade meine neue Schülerin geworden und die gesamte Klasse hatte mitgefiebert und stets gebannt die Nachrichten verfolgt, während sie verschwunden gewesen war. Neben ihrer damaligen Therapeutin war ich die Erste gewesen, der sie die schrecklichen Geschehnisse anvertraut hatte – sie hatte mich, auf die Aufgabe ihrer Therapeutin hin, sich jemandem aus dem Umfeld ebenfalls anzuvertrauen, als Vertrauensperson ausgewählt und war ich anfangs noch etwas überfordert mit der für mich natürlich auch neuen Situation gewesen, so waren wir über die Jahre hinweg ein gutes Team geworden. Sophie war schon immer mehr als bloß eine Schülerin für mich gewesen. Manchmal kam es mir vor, als wären wir gute Bekannte, manchmal sogar gute Freundinnen, Vertraute. Schon damals hatte ich mich viel mit Falco über sie und ihre Situation ausgetauscht, mir von meinem Mann Ratschläge eingeholt, weshalb ich diese Möglichkeit auch gestern wieder genutzt hatte. Diesmal hatten wir allerdings über ihre berufliche Zukunft gesprochen. Sophie hatte immer Lehrerin werden wollen, wobei Falco und ich ihr zufolge in dieser Hinsicht auch einen großen Beitrag geleistet hätten. Dass sie ihr Studium allerdings aufgegeben und nun keinerlei Perspektive mehr hatte, nagte schwer an ihr, das war offensichtlich. Federica hatte mir erzählt, dass sie immer, wenn man sie auf das Thema Berufswahl ansprach, abblockte und bloß meinte, sie würde eh schon in dem Club arbeiten, zu mehr sei sie nicht fähig. Mir tat es im Herzen weh, ihr dabei zusehen zu müssen, wie sie aus dem Gefühl des Versagens heraus ihr Potenzial verschwendete. Klar, ein Studium war teuer und jemand, der es schon mal abgebrochen hatte, brauchte auch wieder eine Weile, bis er hineinfand und bis alles wieder lief, doch ich war überzeugt davon, nein, ich wusste, dass Sophie das mit Links hinbekommen würde. Das Einzige, was sie aufhielt, war sie selbst und ihre Einstellung, das alles nicht mehr verdient zu haben, zum Scheitern verurteilt zu sein. Ich sah es also als meine Pflicht an, mich mit ihr mal über alles zu unterhalten.

Fighting the demons from our pasts - Will love be enough?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt