Kapitel 9

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„Dein Vater war ein SEAL?", fragte James sie.
Eliza antwortete ihm nicht. Stattdessen zog sie eine neue Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Sie inhalierte den Rauch und erst als sie ihn wieder ausgeblasen hatte, suchte sie nach ihren nächsten Worten.

„Ja. Während meiner gesamten Kindheit hab' ich um sein Leben gebangt und was hat ihn letztendlich getötet? Ein beschissener, betrunkener Autofahrer und das fünf Blocks von unserem Zuhause entfernt."
„Shit, das tut mir Leid."
„Ich brauch dein Mitleid nicht", antwortete sie kalt. Sie hatte es damals schon satt gehabt, dass jeder, selbst die ehemaligen Brüder seines Vaters, sie und ihre Familie mit Mitleid überhäuften. Davon war er auch nicht auf magische Weise zurückgekehrt.

„Ich weiß, aber ich weiß auch, wie scheiße das alles ist. Mein bester Freund ist auch zuhause bei einem Unfall gestorben. Wenn man tagtäglich vom Tod umgeben ist und überlebt, vergisst man leider schnell, dass der Tod nicht nur in Form von einer Kugel auf einen wartet." Eliza blickte in seine Augen. Es war nicht nur Mitleid, dass sie erkennen konnte. Nein, sie entdeckte außerdem Verständnis - er hatte etwas ähnliches selbst durchleben müssen.

„Wie ist er gestorben?", fragte sie ihn neugierig.
„Es gab ein Gasleck in seinem Apartment. Er ist eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Gar nicht so lange her..."
„Das tut mir Leid", wiederholte sie nun seine Worte.
Er lächelte sie wehmütig an. „Vor allem für uns ist es schwer, so etwas zu akzeptieren. Ich meine, ich habe miterlebt, wie er in den brenzligsten Situationen einen kühlen Kopf bewahren konnte und uns heil durch zig Missionen geführt hat. Er war unser Anführer und ohne ihn wäre ich nicht mehr da. Er wurde angeschossen, auf ihn wurde eingestochen und er hat mehr als eine Explosion überlebt. Und was hat diesen harten Mistkerl dann in die Knie gezwungen? Ein verkacktes Gasleck. In seinem eigenen Zuhause. Das ist nicht fair."

Eliza nickte.
„Als die Polizei nachts an unserer Tür geklopft hat, habe ich überhaupt nicht an die Möglichkeit gedacht, dass sie die Todesnachricht überbringen könnten. In meiner Vorstellung tauchte immer einer seiner Brüder in der Navy-Uniform auf. Ich werde nie vergessen, was ich den Polizisten damals geantwortet habe: ‚Nein, Sie irren sich. Mein Dad ist doch Zuhause' und ich konnte nicht verstehen, was die von uns wollten."

Sie hatte schon so lange nicht mehr über jene Nacht gesprochen, dass sie das Gefühl nicht mal einordnen konnte, das sie nun verspürte.

Es war Erleichterung.

James nickte zustimmend. „Ich weiß, was du meinst. Es ist egal, welche Gefahren wir alles bezwingen konnten. Man ist niemals wirklich sicher und das Einzige, das wir tun können, ist ihr Vermächtnis zu ehren und sie in unseren Erinnerungen zu halten und für sie weiterzugehen."

Es verstrichen die Minuten, in denen sie über seine Worte nachdachte. Diesmal drängt er sie weder nach einer Antwort, noch durchbrach er die Stille. Er ließ sie einfach nachdenken und kommentierte auch nicht, als sie sich die zweite Zigarette ansteckte.

„Ich habe heute erfahren, dass ich in wenigen Monaten höchstwahrscheinlich gelähmt sein werde."

James wollte ihr schon antworten, doch sie unterbrach ihn. Sie deutete zu der Bank, die am Hinterausgang stand und er verstand den Wink. Als sie sich gesetzt hatten, zog James plötzlich einen Flachmann aus seiner Jacke und reichte ihn ihr. Genüsslich trank sie einen Schluck und spürte die Wärme des guten Whiskeys, der den Knoten in ihrer Brust etwas löste.

„Im letzten Jahr hatte ich einen Unfall, der meine gesamte Wirbelsäule verletzt hat. Ich musste zig Operationen über mich ergehen lassen und Dr. Scott rettete mich vor dem Rollstuhl. Doch nach den OPs begangen mühselige Monate der Physiotherapie und ich musste quasi wieder das Laufen erlernen. Trotzdem habe ich es geschafft. Dr. Scott ist eine alte Bekannte meines Vaters und ihrer Brillanz habe ich alles zu verdanken. Als ich bewusstlos wurde, hatte ich zum ersten Mal seit Monaten wieder heftige Schmerzen. Heute war ich bei ihr. Stellt sich raus, dass sich neues Narbengewebe gebildet hat, das auf mein Rückenmark drückt. Sie meinte, dass wir erstmal neue Medikamente und Physiotherapie versuchen müssen, um das Wachstum zu verlangsamen, beziehungsweise das Gewebe dadurch zu verkleinern, bevor sie operiert."

Sie hielt immer noch den Flachmann in der Hand und nahm einen weiteren Schluck, bevor sie weitersprach.

„Die Operation ist aber tricky. Das Narbengewebe befindet sich an einer höchstgefährlichen Stelle und der kleinste Fehler könnte mich lähmen. Wenn das Gewebe aber weiter wächst und nicht auf die Therapiemaßnahmen anspricht, wird es mich lähmen. Wenn ich zu lange abwarte, könnte die Operation nicht mehr durchführbar sein, und es ist zu spät. Wenn ich sie zu früh operieren lasse, könnte etwas schief laufen und es wird zu spät sein. Jetzt muss ich jede Woche zur Kontrolle hochfahren und hoffen, dass wir den geeignetsten Moment nicht verpassen."

„Fuck", antwortete James. Eliza nickte. „Genau meine Worte. Fuck", antwortete sie und nahm noch einen weiteren Schluck. Dann sprang er plötzlich auf und reichte ihr seine Hand.
„Komm", forderte er sie auf.
Eliza blickte ihn nur verwirrt an. „Komm, steh auf", forderte er diesmal sanfter.
Sie ergriff seine Hand und er zog sie zart auf die Beine.
„Wohin gehen wir?", fragte sie ihn, als er in Richtung Eingang der Bar ging, aus der lautes Gelächter und harte Gitarrenbässe erklangen.
„Tanzen", antwortete er lediglich.

Abrupt blieb sie stehen. „Mir ist nicht nach tanzen. Und so verheult wie ich aussehe, kann ich mich da nicht blicken lassen."
„Dann kannst du mir dabei zusehen, wie ich mich zum Affen mache und währenddessen weiter trinken. Es ist außerdem viel zu kalt hier draußen. Und was dein Make-up betrifft..."
Er wischte plötzlich mit seinen Daumen den verwischten Mascara unter ihren Augen weg. Unwirklich fühlte sie sich wieder wie ein Kleinkind, deren Mutter mit Spucke Flecken aus dem Gesicht entfernte. Sie war jedoch froh, dass sie nur noch wenig Make-up trug und er so schnell sein Werk vollendet hatte. Und dass er auf Speichel verzichtete.

„So, jetzt siehst du nicht mehr aus wie ein Waschbär!" sagte er und kicherte los. „Ey!", rief sie übertrieben empört auf. „Dafür gibt's du die erste Runde aus!" konterte sie.
„Schon gut, schon gut. Das war verdient. Ich warn dich aber schonmal vor. Meine Tanzkünste sind so atemberaubend, dass nicht selten die Frauen in Ohnmacht fallen. Das auch nicht nur, weil sie vor Lachen keine Luft mehr bekommen!" Diesmal kicherte sie los. „Ich wette, bei deinem Anblick vergessen sie vor Schreck einfach Luft zu holen und fallen um."

„Oh so ist das also, Gray! Dann werden wir mal sehen, wer hier wem die Luft verschlägt!"
Sie wusste nicht, warum sie ihm folgte. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht unter Leuten sein, schon gar nicht in der Bar, in der auch noch einiges los war. Dennoch folgte sie ihm, trank vergnügt eine Runde Shots mit ihm und als er sich wie angedroht in Richtung Tanzfläche begab, beobachtete sie ihn.

Und musste prompt loslachen, als sie seinen wirklich atemberaubend schlechten Tanzbewegungen folgte. Sie beneidetet ihn um sein Selbstbewusstsein, da es es ihm vollkommen egal zu sein schien, was andere über diesen großen, muskulösen, und zugegeben gut aussehenden Kerl halten könnten, der sich bewusst zum Trottel machte. Sie trank ihren Cocktail leer, den Curtis ihr ermutigend gemixt hatte und lauschte der Musik, zu der James seinen Körper in aberwitzigen Körperhaltungen bewegte.

Scheiß drauf Eliza. Beweg deinen Körper, solange du noch kannst, sprach sie sich Mut zu. Kurzerhand setzte sie das leere Glas ab und lief auf James zu, der ihr freudig ein unsichtbares Lasso zuwarf und vorgab, er würde sie wie ein wahrhafter Cowboy einfangen. Gerade als sie anfing, sich zu bewegen, klang das Lied aber aus. „Nein!", schimpfte Eliza, nur um in der nächsten Minute freudig auszurufen, als sie das neue Lied erkannte.

Darlin′ you got to let me know
Should I stay or should I go?
If you say that you are mine
I'll be here ′til the end of time
So you got to let me know
Should I stay or should I go?

Sie liebte diesen Song schon seit ihrer Kindheit und nichts konnte sie nun zurückhalten. Zunächst tanzten sie beide für sich, bis James letztendlich ihre Hand ergriff und sie herumwirbelte. Es störte sie gar nicht, wie amateurhaft, oder gar idiotisch sie aussahen. Nein, es war ihr egal. Selbst als das Lied schon längst vorbei war, tanzte sie trotzdem mit James weiter und weiter, bis der Schweiß nur so von ihr tropfte und selbst das war ihr in diesem Moment egal. Sie vergaß alles um sich herum und lebte nur noch für diesen Moment, in dem sie nichts weiter war, als eine junge Frau, die mit einem attraktiven Mann auf der Tanzfläche herumalberte. Sie fühlte sich völlig normal.

Eliza bemerkte nicht den Mann, der sie heimlich beobachtete und Fotos von ihnen schoss.

The BartenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt