Kapitel 12

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Eliza wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, sich innerhalb der nächsten dreizig Minuten anzuziehen und ihren Rucksack für die bevorstehende Wanderung zu packen, ohne etwas wichtiges zu vergessen. Zugegebenermaßen hatte James sie ständig daran erinnern müssen, die notwendigen Dinge auch wirklich einzupacken, denn ihr Kopf war noch nicht ganz wach gewesen. Selbst jetzt saß sie auf dem Beifahrersitz seines Wagens und schlürfte gierig den Kaffee, den sie mitgebracht hatte, während sie die vorbeiziehende Landschaft betrachtete.

Colorado war schon immer ihr Lieblingsstaat gewesen. Sie liebte die Natur, die Berge, die Vegetation - ja selbst der Nachthimmel erstrahlte so überwältigend schön, da die sich hier Lichtverschmutzung in Grenzen hielt. Sie betrachtete gerade den sich nähernden Bergkamm, als James ihre Gedanken unterbrach.

„... Ein Gedanke für einen Gedanken?"
„Hm?", antwortete sie bloß. Sie hatte den ersten Teil seiner Frage gar nicht mitbekommen.
James lachte kurz auf, bevor er antwortete:
„Du warst so vertieft, da wollte ich wissen, woran du denkst. Natürlich wollte ich es fair halten und im Austausch einen meiner Gedanken anbieten. Aber anscheinend hast du das nicht mal mitbekommen."
Seine Stimme klang belustigt und er musste sich räuspern, um nicht wieder loszulachen.

„Lass dir das eine Lehre für die Zukunft sein, mich nicht um sechs aus dem Bett zu werfen. Zumindest nicht, ohne es vorher mit mir abzusprechen."
Eliza lächelte jedoch zurück und nahm so die Schärfe aus ihren Worten.
„Schon gut, schon gut", erwiderte James.
„Ich werde es mir merken."
„Also, woran hast du gedacht?", fragte er nach einer kurzen Pause.
„Als ich noch klein war, hat mein Vater einen alten Camper ausgeliehen und uns hierhergebracht. Er kam aus Colorado und wollte uns sein Zuhause zeigen, das so wild und rau und ganz anders als die Ostküste war. Da habe ich mich in den Westen des Landes verliebt. Wir kamen noch sehr oft hierher, wann immer es sein Job uns ermöglichte."

James nickte zustimmend.
„Colorado ist wirklich wunderschön, vor allem im Herbst, wenn die Wälder zu bunten Farbklecksen werden und die Berge einen wilden Anstrich erhalten. Das ist meine liebste Zeit."
„Oh, du bist ja wirklich poetisch veranlagt", zog Eliza ihn warm auf. James schüttelte nur lächelnd den Kopf.
„Also was ist dein Gedanke?", fragte sie ihn.
„Ich musste daran denken, wie überaus glücklich ich mich schätzen kann, das hier alles noch sehen und erleben zu dürfen. Es gab so viele Momente, in denen ich hätte sterben können, doch irgendwie meint das Schicksal es wohl gut mit mir. Oder ich habe noch nicht das getan, was ich machen soll. Keine Ahnung, jedenfalls bin ich einfach nur dankbar."

„Wann war dein letzter Einsatz?"
James antwortete nicht gleich, sondern schien in Gedanken versunken zu sein. Eliza räusperte sich, bevor sie ihre Frage wiederholte.
„Oh, sorry. Letztes Jahr", antwortete er kurzgebunden. Sie spürte, dass die Stimmung zu kippen drohte und versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Also, verrätst du mir, wohin wir fahren?"
„Nein. Das wird eine Überraschung. Du wirst es schon früh genug erfahren."
„James Wilson, entführst du mich gerade?" Sie versuchte belustigt zu klingen, doch schwang ein ängstlicher Unterton in ihrer Stimme mit.

„Nein! Um Gottes Willen!", versuchte er sie zu beruhigen.
„Ich möchte dir nur nicht die Überraschung verderben", fügte er noch hinzu.
Elizas Lächeln war jedoch nur halbherzig. Sie verfluchte sich dafür, dass alles ihre Alarmglocken aufschnellen ließ, doch konnte sie die aufflackernde Angst nicht so leicht wieder verdrängen.
Er musterte sie eingehend aus den Augenwinkeln und wurde ernst.
„Hey Siri, ruf Curtis an", sprach er letztendlich sein Handy an, das auf einer Halterung an der Mittelkonsole prangerte.
Nach drei Ruftönen erklang die müde Stimme ihres Chefs, den der Anruf wohl aus dem Bett geworfen hatte.
„James, weißt du, wie früh es ist?", tadelte Curtis seinen Freund.

„Genau meine Worte", murmelte Eliza vor sich hin.
„Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich mit Eliza heute in den Bergen unterwegs bin und ich sie dir unbeschadet und pünktlich zur Abendschicht zurückbringen werde."
„Herzlichen Glückwunsch. War das alles?", erwiderte er mürrisch.
„Ja."
„Dann bis später", sagte Curtis und beendete sogleich das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Siri, teile den Standort mit Curtis", forderte er seinen Sprachassistenten noch auf, bevor er sich wieder Eliza widmete.
„Ihr seid ja alle ziemlich gut drauf am Morgen", witzelte James.
Eliza lachte plötzlich laut los. Erst als sie sich wieder etwas fing, schaffte sie es, die Situation zu kommentieren.

„Ich habe Curtis noch nie so mürrisch erlebt. Du hast echt ein Händchen dafür, Menschen gegen dich aufzubringen." Jegliche Spur von Panik war aus ihren Worten verschwunden. Diese kleine Tat hatte sie beruhigen können. Vorerst.
„Das wird der alte Brummbär mir noch lange vorhalten. Möchte mir gar nicht ausmalen, mit was er mir das heimzahlen wird."
Er lächelte sie an.
„Danke", antwortete sie nur und lächelte zurück.
„Also du siehst, dass ich entweder der schlechteste Entführer auf diesem Planeten bin, oder wir wirklich nur wandern gehen."
Eliza nickte.

„Okay, okay. Ich glaube dir. Eine Frage habe ich aber. Was, wenn der Schmerz zurückkehrt und ich nicht mehr laufen kann?"
„Dann wird wohl Menschenfrau auf der Speisekarte der ansässigen Berglöwen stehen."
Eliza verdrehte übertrieben die Augen.
„Idiot", antwortete sie gespielt beleidigt. Diesmal lachte James laut los. Als er sich beruhigte, erhob er wieder das Wort.
„Spaß beiseite. Das habe ich natürlich berücksichtigt. Wir werden nicht weit wandern müssen, um an den Ort zu gelangen, den ich dir zeigen möchte. Notfalls kann ich dich tragen, auch wenn das den Pumas nicht gefallen wird."
„Vielleicht überlasse ich dich ja den Berglöwen. An dir haben sie sowieso mehr zu knabbern", schmunzelte Eliza.
„Ach ja?", James zog eine Augenbraue in die Höhe.

Eliza spürte wieder diese Wärme, die sich in ihr ausbreitete und erschrak zugleich.
Shit, dachte sie. Was passiert gerade.
„Wenn du nicht bald mal Musik abspielst, werfe ich mich freiwillig den Berglöwen zum Fraß vor!", lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung.
Seine Augen verengten sich für einen Bruchteil der Sekunde, bevor er ihrer Bitte nachkam und Spotify öffnete.
Als die Gitarrenklänge eines alten Rocksongs seinen Wagen erfüllten, entspannte Eliza sich und blickte wieder in die vorbeiziehende Landschaft.

I see the bad moon a-risin'
I see trouble on the way
I see earthquakes and lightnin'

Wie passend, kommentierte sie stumm seine Musikwahl, doch sie wippte im Takt des Songs mit.
James Wilson, ich sollte einen weiten Bogen um dich machen, dachte sie und versuchte sich ganz und gar auf die Melodie zu konzentrieren.

Keine halbe Stunde später bog James plötzlich auf eine Abzweigung, die sich einen Bergkamm hoch schlängelte und an einem Besucherparkplatz endetet.
„Wir sind da", verkündete er freudig und hüpfte bereits aus seinem Truck, den er gerade geparkt hatte.
Sie stieg ebenfalls aus und zündete sich eine Zigarette an, woraufhin James ihr einen tadelnden Blick zuwarf.
„Ich möchte kein Wort hören! Ich nehme die Stummel auch mit und verschmutz' nichts!", sagte sie bloß, bevor er ihre schlechte Angewohnheit kommentieren konnte.
„Ich sag' doch nichts!", verteidigte er sich schmunzelnd.

Nach einem kurzen Fußmarsch auf einem Wanderpfad durch den Bergwald blieb James abrupt stehen. Eliza war so sehr mit der Schönheit der Natur beschäftigt gewesen, dass sie seinen Halt gar nicht mitbekommen hatte und mit ihm zusammen stoß. Durch die Wucht des Aufpralls verlor sie ihr Gleichgewicht und fiel zu Boden.
James lachte wieder mal laut los, als er auf sie hinab schaute.
„Also so umwerfend bin ich also", sagte er belustigt und sein Gelächter wurde von seinem eigenem Witz noch weiter angeheizt.
„Blöder Mistkerl. Wenn du fertig damit bist, über deine eigenen Worte zu lachen, könntest du mir ruhig helfen", erwiderte Eliza streng.

„Nö, das schaffst du schon. Ich glaube an dich."
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wollte ihm gerade eine weitere Beleidigung an den Kopf werfen, als James einen Schritt nach rechts machte und so den Ausblick auf einen atemberaubenden Wasserfall freigab.
Sie war so gebannt, dass sie alles vergaß und einfach sitzend das Naturschauspiel beobachtete.
Dann tauchte plötzlich seine Hand vor ihrem Gesicht auf, die sie abwesend ergriff und als sie wieder auf beiden Beinen stand, lief sie einfach los.

Dieses Kapitel widme ich der lieben freezing_storm
Ihre wundervolle Unterstützung und Freundschaft inspirierte und motivierte mich und so konnte ich meine kleine Schreibblockade durchbrechen.
Danke für alles, liebe Storm❤️

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 09, 2022 ⏰

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