1. Dezember

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für Eva Evakvr (lovingletsdance)
von lisbethindistress (letsdanceluna)

Eva!
Dein Wichtel hier.
Ich wünsche Dir eine wunderschöne Weihnachtszeit und natürlich viel Spaß beim lesen, deines gewidmetem Oneshots.

Ein zuckersüßer Duft kriecht meine Nasenwand hoch zu meinen Riechknospen, die vor einem überwältigenden Riechorgasmus zu platzen drohen. Meine Augen rollen nach hinten, während zeitgleich ein genüssliches Stöhnen aus meinem Mund entkommt.
„Was?", frage ich, nachdem die Gänsehaut von meinen Armen verschwunden ist und ich wieder bei allen Sinnen bin.
„Du hast gestohnt", sagt der Isländer mit einem skeptischen Seitenblick.
Meine Schultern wackeln vor Freude. „Wie kann man nicht stöhnen? Riechst du das nicht?" Ein weiteres Mal ziehe ich den lieblichen Duft von gebrannten Mandeln meine Nase hinauf. Am liebsten würde ich niemals wieder ausatmen, den Geruch für immer wie ein Staubsauger einsaugen.
„Was?", frage ich erneut, da Ruriks linke Augenbraue immer noch nicht den Weg nach unten gefunden hat. Eher finden auch seine Schultern den Weg nach oben, dabei entkommen seinen vollen zarten Lippen ein überfordertes Lachen.
„Ich habe nichts gesagt."
„Hast du nie von dem Spruch, Blicke sagen mehr als tausend Worte, gehört?", entgegne ich sarkastisch, Rurik jedoch scheint ernsthaft darüber nachzudenken.
Rurik schüttelt seinen Kopf. „In Island sagen wir sowas nicht. Aber mir schreiben das alle Leute immer, wenn ich eine Story mit uns poste." Seine Daumen tippen pantomimisch in der Luft herum.
Ich erröte, was ich - Gott sei Dank - auf den kalten Windzug schieben kann, der zum perfekten Zeitpunkt an uns vorbeizieht. Warum reagiere ich überhaupt so nervös? Für mich ist es nichts Neues, dass Außenstehende - besonders die Presse - sowas über mich und mein Privatleben verbreiten.
Schaut mal wie sie ihn anguckt, später möchte ich, dass mich jemand so anschaut wie Välly XY anschaut... Wie gucke ich denn? Ich gucke ganz normal. Aber anscheinend ändert sich mein Blick sobald, der auf jemanden landet der ein X Chromosomen weniger hat. Würde ich alles glauben, was über mich geschrieben wird, dann wäre ich bereits dreimal verheiratet, viermal geschieden und achtmal Mama. Noch nie bin ich wegen sowas errötet. Vor Wut vielleicht, aber vor Scham? Niemals.
Würde ich Nein sagen, wenn Rurik versuchen würde mich zu küssen? Auf keinen Fall. So dumm bin ich nun auch nicht. Aber ich würde niemals nie den ersten Schritt machen, da bin ich leider immer noch ziemlich Old School mäßig unterwegs und da Rurik keine Anstalten macht in naher Zukunft mir solch ein Signal zu übermitteln, behalte ich meine Lippen eingezogen an meinem Gesicht.
Meine Zähne fangen an zu klappern, ob vor Kälte oder Scham könnte man jetzt diskutieren, zum Glück nimmt Rurik es als ersteres auf.
„Ist dir kalt?", fragt er mich mit einer hauchzarten Stimme, die mich schneller zum schmelzen bringt als Marshmallows in heißer Schokolade. Rurik schaut sich um, vermutlich um etwas zu finden, was mir helfen könnte.
„Da!", stößt er tatsächlich aus und zeigt auf ein Glühweinstand der nur wenige Meter von uns entfernt steht.
„Zu Alkohol sage ich nie Nein", scherze ich, dankbar für den schnellen Themenwechsel.
Ich glaube ich hatte auf einem Weihnachtsmarkt noch nie so schnell einen Glühwein in der Hand und das hat nun wirklich was zu bedeuten, denn nach der Schule sind Cheyenne und ich früher immer extra nur auf ein Weihnachtsmarkt gegangen, um dort Glühwein zu trinken.
„Auf eine magische Weihnachtszeit", stimme ich an, mein Becher gen Himmel gerichtet, bereit einen weiteren Becher gegen gescheppert zu bekommen.
Rurik stößt vorsichtig an. „Auf uns."
Auf Kommando wird mein Herz wärmer als die gefühlt kochend heiße Flüssigkeit in meiner Hand. Um nicht darauf antworten zu müssen, nehme ich einen großen Schluck der meine ganzen Schleimhäute im Mund- und Rachenbereich wegätzt.
Hätte man darauf überhaupt etwas antworten können?
Aus einem Schluck werden zwei. Drei. Die halbe Tasse...
„Oh wow, da hat jemand Durst", lacht Rurik. Nein, ich brauche nur Alkohol, damit ich endlich mein Shit zusammenbekomme, denke ich hoffentlich leise, da der Alkohol jetzt schon begeistert an meinem Gehirn anklopft.
„Möchtest du noch einen?" Rurik ist schon dabei sein Portmonee rauszuholen, da haue ich ihm fast das schwere Teil aus der Hand.
„Nein, danke. Das reicht mir." Ich setze mein charmantestes Lächeln auf, um diese ganz merkwürdige Stimmung zwischen uns zu überspielen. Langsam bereue ich es trotzdem mit hierher gekommen zu sein, obwohl alle andere aus dem Cast ganz plötzlich absagen mussten. Selbst Cheyenne hatte auf einmal dringlich etwas zu erledigen, dabei sind die Sonntage immer ihre Off-Days.
Auch Rurik scheint sichtlich überfordert mit dieser ganzen Situation zu sein, so wie er in der Gegend umherschaut.
„Wollen wir gucken, was es hier noch gibt?", schlägt er vor.
Ich lasse die Luft aus meinen Lungen austreten, die ich seit meinem Lächeln dort gefangen gehalten habe. „Gerne."
Wortlos schlendern wir die volle Straße hinunter. Außer, dass ab und zu unsere Hände aneinander vorbeistreifen und ich mit voller Willenskraft versuche so zu tun als hätte ich es durch meine Handschuhe nicht gespürt, passiert nichts zwischen uns. Gähnende Leere. Rein theoretisch hätte ich auch alleine herkommen können und es würde keinen großen Unterschied machen. Ich bin kurz davor die Sache abzublasen und Rurik von diesem Reinfall an Weihnachtsmarkt Besuch zu befreien, da sehe ich ein paar Meter weiter zu meiner Rechten ein gigantisches Goldfischkuscheltier in einem noch größeren Glas.
Als hätte der Mandelduft sich in meine Blutbahn geschlichen und mir einen Zuckerschock verpasst, weiten sich meine Augen, mein Blick starr auf den Schießstand gerichtet, wo der riesige Goldfisch als Hauptgewinn von der Wand baumelt, wartend von mir gewonnen zu werden.
„Rurik", breche ich die Stille zwischen uns, abrupt bleibe ich stehen, während meine Hand nach Ruriks Handgelenk greift. Stolpernd kommt er zum Halt.
„What?", entgegnet er alarmiert.
  Mit meinem Finger zeige ich auf die voll besuchte Schießstand Bude. Um exakt zu sein, auf den riesigen Goldfisch. Er schaltet sofort was ich damit sagen möchte.
  „Wollen wir schießen gehen?"
  Mein breites Lächeln beantwortet seine Frage.
  „Hast du sowas schon mal gemacht?", frage ich mit zusammengekniffenen Augen. Mein Puls verlangsamt sich, während das Gewähr in meinen Händen standhaft auf das Ziel gerichtet wird. Mein kompletter Fokus liegt auf die Luftballons, die ich zum Zerplatzen bringen muss. Ein letztes Mal hole ich Luft, mein Finger drückt den Abzug langsam runter und -
  Rurik lacht, was schnell zu einem räuspern wird, sobald er meinen drohenden Schulterblick wahrnimmt.
„Du hast mich abgelenkt!", verteidige ich meinen ausbaufähigen Schuss, der absolut am Ziel vorbeigezischt ist.
Als einzige Verteidigung hebt Rurik seine Hände, seine Lippen sind eingezogen, sodass diese in seinem Gesicht fehlen.
Mein Blick bleibt für weitere Sekunden auf Rurik haften, bis ich mir sicher bin, dass er keinen Mucks mehr von sich geben wird.
Komm, Valentina. Du schaffst das. Du rockst das. Du bist toll. Tief Ein- und Ausatmen und zeig Rurik was du kannst, motiviert mich meine innere Stimme.
Ein weiterer Schuss fällt. Ich habe immer noch nichts getroffen, immerhin ist es diesmal aber wirklich knapp gewesen.
Ein weiteres Mal drehe ich mich zu Rurik um, der mich allmählich immer nervöser macht so wie er über meine Schulter guckt. Seine Arme gehen automatisch wieder nach oben.
„Ich hab nichts gemacht", entgegnet er zügig.
„Du hast geatmet."
Genervt drehe ich mich wieder um. Ich habe nur noch einen Versuch und der Part in mir der es über alles hasst, zu verlieren bringt meine Hände vor Anspannung zum Zittern.
Einatmen. Ausatmen. Schießen.
Mein dritter Versuch trifft fast den Mann hinter der Bude am Kopf, gerade noch rechtzeitig schafft er es sich zur Seite zu drehen.
Quietschend schrecke ich auf, meine Hände schlage ich vor den Mund, während ich den Mann mit großen, entschuldigenden Augen anstarre.
  „Entschuldige", nuschle ich in meine Hände.
  Er winkt meine Entschuldigung locker ab, als würde das für ihn nichts Neues sein. Mit knallroten Wangen gebe ich ihm das Gewehr zurück und drehe mich zu Rurik um, der immer noch viel zu amüsiert für meinen Geschmack aussieht.
  „Mach du es doch besser", blaffe ich ihn an. Ich dränge mich hinter Rurik, packe ihn an den Schultern und schiebe ihn nach vorne an den Stand. Mit ein paar Handbewegungen vordere ich den Mann den ich fast erschossen habe auf, Rurik ein Gewehr zu geben.
„Bist du dir sicher, dass ich das ma-"
„Ja, ja. Jetzt bist du dran", unterbreche ich Rurik.
Gebannt schaue ich ihm dabei zu wie er das Gewehr in seine großen, männlichen Hände nimmt. Langsam beugt er sich runter, sodass seine Ellenbogen auf der abstehenden Platte des Standes aufkommen. Das Gewehr ganz nah an seinem Körper, legt er die Wange auf das hintere Teil des langen Gewehres, während er mit dem vorderen Teil anfängt auf eines der Luftballons zu zielen. Er sieht in dieser Stellung absolut lächerlich aus, weshalb nun meine Lippen anfangen sich geschickt nach oben, in ein schelmisches Grinsen zu ziehen.
Ein Schuss fällt, ein Knall ertönt und der von mir fast abgeschossene Mann fängt an zu jubeln. Ein weiterer Schuss fällt, noch ein Knall lässt mich zusammenzucken und nun jubelt mehr als nur ein Kerl. Als hätte ich ein Déjà-vu, geschieht der Durchlauf ein weiteres Mal, diesmal freuen sich alle um mich herum, außer ich selbst, die finster dreinschaut.
„Wir haben einen Sieger", feiert der Buden Mann, der zeitgleich auf einen roten Knopf drückt. Die befestigten Lichter an der Wand, die bis hoch zum Dach reichen, pulsieren in roten, grünen und gelben Farben. „Du darfst dir einen Hauptpreis von ganz oben aussuchen." Der Mann deutet auf die gigantischen Kuscheltiere, die von der Decke baumeln, unter anderem auch auf den Goldfisch den ich mit keinen meiner mickrigen Zielversuche hätte gewinnen können.
Neidisch beobachte ich Rurik wie er zwischen den ganzen Hauptpreisen hin und her schaut, gedanklich verabschiede ich mich von dem großen Goldfisch.
„Ich hätte gerne das große Ding da." Ich sehe noch wie Rurik seinen Arm hochhebt, bin allerdings zu eingeschnappt, um mir anzusehen wie er seinen Gewinn bekommt, daher lasse ich mich in der angesammelten Masse hinter uns untergehen und nach hinten drängen. Es dauert nicht lange, da höre ich eine männliche Stimme mit triefenden isländischen Dialekt zwischen dem ganzen Tumult vor der Bude.
„Valentina? Oh, sorry. Darf ich - sorry", höre ich Rurik stammeln, jedenfalls dachte ich, dass es Rurik ist, bevor auf einmal ein gigantischer Goldfisch, samt Goldfischglas, vor mir steht.
„Ich hab dir was mitgebracht", brüllt Rurik durch das Kuscheltier hindurch. Ohne Vorwarnung drückt er es mir in die Hand, schnell bemerkt er aber, dass meine kurzen Arme nicht ansatzweise dafür geschaffen sind Drumherum zu fassen. Er setzt das Goldfischglas auf dem Boden ab. Von beiden Seiten, bis zu den Ohren, grinst er mich an.
„Er wollte es nicht für dich als present einpacken", erzählt er schulterzuckend. „Also muss ich es dir leider so schenken."
Ohne die richtigen Worte finden zu können, werfe ich mich überschwänglich um Ruriks Hals. Trotz gefüllter Winterjacke, spüre ich seine langen Finger hinten an meinem Kreuz. Meine Zehenspitzen drücken mich nach oben an sein Ohr. „Danke", flüstere ich hinein, während ich mich zeitgleich wundere, warum ich auf geheimnisvoll tue, als dürfte dieses Wort in kein anderes Ohr gelangen.
„Für dieses Ding?", lacht er.
So schnell wie ich um seinen Hals gefallen bin, stoße ich ihn wieder weg. Mit ernst dreinschauender Miene schaue ich in seine strahlend blauen Augen, die durch sein Lächeln leuchten wie eine Taschenlampe.
Empört schnappe ich mir mein Goldfisch. „Das ist kein Ding. Das ist ein Goldfisch und der ist toll."
„Das Ding", fängt Rurik an, komplett ignorierend, dass es einen richtigen Namen besitzt, „ist so gigantisch, dass wir gar nichts mehr wirklich hier machen können."
„Doch", entgegne ich schneller als ich denken kann. Der Goldfisch ist wirklich ziemlich groß. Es ist ein Kuscheltier, also alles andere als schwer, dennoch sehr unhandlich zu tragen.
„Und das wäre?", fordert mich Rurik auf, der mein Pokergesicht direkt durchschaut hat.
Meine Gedanken überschlagen sich bis mir das einfällt, was ich am besten kann. „Essen", antworte ich triumphierend lächelnd.
„Essen?", wiederholt er in seinem unwiderstehlichen Akzent.
„Warum tust du so als wäre es das absurdeste, was man auf einem Weihnachtsmarkt machen könnte?" Immerhin ist jeder zweite Stand hier gefüllt mit den verschiedensten Leckereien. Wäre ich nicht Schauspielerin und mein Körper würde somit nicht von meinem Job abhängig sein, würde ich mich durch jede Bude hier probieren. Das einzige Problem ist nur, dass mein Hunger sich noch in Grenzen hält und ich generell eher lieber am Ende meinen Bauch vollschlage, dann kann man nämlich einen gemütlichen Verdauungsspaziergang zum Auto machen.
Mein Blick geht ein weiteres Mal auf Wanderung. Es kann doch nicht sein, dass man auf einem Weihnachtsmarkt, voll mit Ständen, blickenden Lichtern und einem ganzen Rummel nichts zutun findet.
Meine Augen bleiben auf einer großen flachen Fläche stehen. In mir geht ein Licht auf, was selbst Rurik erkennt.
„Oh Lord, what now?", fragt er zögerlich. Er ist so dramatisch.
„Komm, wir gehen Schlittschuhlaufen." Bevor Rurik zustimmen oder es verneinen kann, nehme ich seine Hand und wandere auf die volle Eisfläche zu.
  „Zwei bitte." Ich halte zwei Finger hoch, da Rurik zu sehr damit beschäftigt ist die Eisfläche anzustarren und mein Goldfisch zu erdrücken, als seine eigenen Schlittschuhe zu bestellen. „Kommst du?", fordere ich ihn auf. „Bevor deine Schlittschuhe auf meine Füße fallen."
  Er bewegt sich fast wie mechanisch, seinen Blick wendet er kein einziges Mal von der Fläche ab, selbst seine Stimme scheint er verloren zu haben.
  „Wollen wir nicht doch lieber essen?" Bringt er nach einer Ewigkeit hervor. Ich stehe bereits in den Startlöchern, freudig gleich den rutschigen, harten Gegenstand unter meinen Füßen zu spüren. Nostalgie pur, denke ich jedesmal, wenn ich auf dem Eis stehe. Manchmal vermisse ich es eine professionelle Eisläuferin zu sein, obwohl mir mein Beruf mindestens genauso viel Spaß macht. Der hat meinen Alltag nur so sehr im Griff, dass der zu turbulent ist um noch meinem anderen Herzen, das Eislaufen, richtig verfolgen zu können.
  „Ich muss dir was ... beichen? Heist das so? Beichen?"
  Ich gebe mein bestes nicht zu grinsen. „Dann beiche mal." Meine Hände finden meine Hüften, mein Kopf kippt immer mehr zur Seite.
  „Ich kann nicht Eisfahren."
  Ein Prusten entkommt meinen Lippen, bis es sich zu einem richtigen Lacher formiert. Es dauert eine Weile bis ich schnalle, dass ich die einzige von uns beiden bin die lacht.
  Schnell schlage ich meine Hand vor den Mund. „Rurik, es tut mir so leid."
  Ich lasse meine Hand etwas länger an meinem Gesicht, zu nervös es endgültig mit ihm vermasselt zu haben. Er sieht so blass, so verletzlich aus. Seine Augen sind voller Furcht, was die geschlagenen Falten auf seiner Stirn erklären.
  Aber komm, er ist Mister Ich-Kann-Alles, außerdem ist er ein Isländer, der mehr von Eis umgeben ist als Eisbären mittlerweile. Warum soll ich ausgerechnet das erahnen können?
  „Ich habe endlich dein Kryptonit gefunden", stelle ich vermutlich zu amüsiert fest. Der arme ist so bleich, sein Gesicht matched dem Eis perfekt.
  „Warum grinst du?"
  „Ich?", ich zeige auf mich. „Ich grinse doch nicht." Lüge. Das ist eine Lüge. Ich grinse. Ich genieße es dermaßen die Rollen von vorhin mit ihm gewechselt zu haben. Endlich kann ich mal etwas was er nicht kann. Wurde auch langsam mal Zeit. Nicht, dass das ein Wettbewerb oder sowas in der Art ist.
  Ich laufe auf Hui Buh zu und hake mich in seinen muskulösen Arm ein. „Dann ist es jetzt an der Zeit, dass du wirklich alles kannst."
  Mit viel Überredungskunst bekomme ich den Schisser endlich aufs Eis.
  „Rurik, dann fällst du halt hin. Was soll's?" Erst fand ich es ja noch süß wie ängstlich er anfangs war, mittlerweile geht es mir nur noch auf die Nerven. Es ist schmerzhaft ihm dabei zuzusehen wie er das Eis mit seinen Schlittschuhen kaputt trampelt, weil er so stampft. Wenn er nicht laut vor sich hin stöhnt, dann flucht er so laut, dass uns drei Mütter völlig empört angeblafft haben, dass Rurik in Gegenwart derer Kinder doch seine Zunge zu zügeln hat.
  „Jesus", stöhnt er auf. Wie ein Pinguin der versucht zu fliegen, wackelt er mit seinen Armen, seine Füße sind ständig im Weg, sodass er über diese stolpert. War er nicht Fußballer? Wie hat er es geschafft den Ball von der einen Seite zur anderen zu bringen?
  „Kannst du nicht wenigstens mal hinfallen, damit ich was zu lachen habe?" Ich habe schon lange aufgeben ihn anzufeuern besser zu werden. Er hat zu viel stolz um sich ein Pinguin als Laufhilfe auszuleihen und ein noch größeres Ego um hinzufallen. Somit ist die Bande immer in seiner Reichweite.
  Rurik zieht eine Grimasse. Selbst dann sieht er noch heiß aus. „Ich glaube, das wird nichts", presst er zwischen seinen Zähnen hervor. Als wäre es unmöglich Schlittschuh zulaufen und zu reden gleichzeitig, versucht er mit rudernden Armen hektisch zur Bande zurückzukehren, die kein Meter von ihm entfernt ist.
  „Wir sind nichtmal eine Runde gelaufen", beschwere ich mich. Ich gucke ihn wütend an, dabei ist das nur ein schwacher Versuch ihn nicht auszulachen. Er krallt sich an der Bande fest als würde sein Leben davon abhängen, dabei ist sein Gesicht knallrot.
  „Ich breche mir gleich meine Beine." Jetzt muss ich wirklich lachen. Bevor ich ihn aus seinem Albtraum wecke, hole ich mein Handy aus der Jackentasche.
  „W- what are you doing?" er bewegt sich nur ein paar Millimeter, das reicht aber schon, um seine Beine so schnell rennen zu lassen wie ein Hamster in einem Hamsterrad.
  Mir ist es egal, dass meine dreckige Lache herauskommt, die eigentlich nur Cheyenne und Chryssa kennen; dieses Videomaterial ist Gold wert.
  „Valentina, Hilfe", fleht er und beäugt den Ausgang, der sich parallel von uns befindet.
  Meine ernste Masche kann ich nicht lange aufrechterhalten. Ich lache und mache vermutlich das bescheuertste, was ich hätte machen können - ich gebe Rurik meine Hand.
  So hilflos wie er ist, nimmt er meine Hand dankend an. Sobald unsere Hände fest umschlossen sind, drückt er sich von der Bande weg und anscheinend denkt er, dass ein einziger Griff von mir bedeute, dass er immun vorm Hinfallen ist, denn er stößt sich alles andere als langsam weg.
  Meine Ohren nehmen ein schnelles Zerhacken des Eises wahr. Aus einer Hand, die mich festhält, werden zwei und bevor ich richtig schalten kann was passiert, gehen wir mit einem Schrei zu Boden. Reflexartig kneife ich meine Augen zu, meine Hände sind vor meinem Brustkorb aufgestellt, bereit mich rechtzeitig am harten Untergrund abzustützen. Es dauert eine Weile bis ich realisiere, dass ich die Eisfläche nicht zu spüren bekomme, dafür höre ich ein lautes Brummen unter mir.
  Langsam öffne ich meine Augen und erschrecke.
  „Ich bin hingefallen." Rurik lächelt mir verlegen ins Gesicht. Gefühlt trennt uns nur  noch ein Blatt bis sich unsere Nasenspitzen treffen. Schielend lächle ich zurück, überfordert, was ich sonst machen soll. Vielleicht kann ich so tun als hätte ich eine Nackenschwäche, weshalb ich leider mein Gesicht auf seines legen muss, meldet sich der fünf Jahre alte Single Teil in mir, der darauf wartet, endlich wieder reaktiviert zu werden. Bin ich so verzweifelt? Ich dachte eigentlich nicht, aber ich bemerke wie sich mein Nacken immer mehr der Schwerkraft hingibt. Ist das überhaupt die Schuld meines Nackens? Auf jeden Fall streift Ruriks Nase an meiner entlang. Mein Atem stockt. Mental bereite ich mich vor jeden Moment Ruriks Lippen auf meinen zu spüren. Sie sind bestimmt weich.
  „Platz da!", pöbelt uns ein Rotzlöffel von der Seite an, dem ich am liebsten den Hals umdrehen würde.
  Unter mir zuckt Rurik zusammen und wirft mich halb von ihm runter. Er tut so als wäre er aus einer Hypnose erwacht so schnell wie er versucht aufzustehen und zum Ausgang zu gelangen. Wenn er unbedingt flüchten möchte, dann bitte. Ich werde ihm jedenfalls nicht mehr helfen.
  Die Enttäuschung immer noch ungeküsst zu sein steht mir nicht nur ins Gesicht geschrieben, meine Schultern hängen fast bis zum Boden, mein Kopf fühlt sich verwelkt wie eine Blume an.
  Obwohl Rurik sich lange vor mir zum Ausgang hin bewegt hat, muss ich immer noch erstaunlich lange auf ihn warten. Ich habe bereits meine Schlittschuhe ausgezogen und abgeben, bis er sich endlich neben mich setzt.
  „Das war spassik." Ich muss ihm kein Blick würdigen um zu wissen, dass seine Nase einige Zentimeter länger geworden ist.
  „Du bist ein verdammt schlechter Lügner, hat dir das mal jemand gesagt?"
  Er antwortet mit einem Lächeln, dabei war das alles andere als lustig gemeint. Ich bin weit davon entfernt sein Lächeln zu erwidern. Dieser Tag ist ein absoluter Reinfall. Wortwörtlich, so wie wir uns eben hingepackt haben - den blauen Fleck an meinem Knie spüre ich jetzt schon. Vermutlich möchte Rurik nie wieder etwas mit mir unternehmen. Oder noch besser: Er wird so tun als würde er mich nicht kennen, sobald wir gleich getrennte Wege gehen, weil Rurik die ganze Sache jeden Moment abblasen wird. Meine Enttäuschung verwandelte sich in Frust, was sich bei mir schnell als Wut entpuppt.
  Nichts lief heute wie es sollte. Angefangen damit, dass wir eigentlich zu siebt auf den Weihnachtsmarkt gehen wollten. Ich hatte meine Gründe, warum ich nicht mit Rurik alleine sein wollte. Er verwirrt mich. In seiner Nähe kann ich nicht klar denken. Keine Signale richtig zuordnen. Zwinkert er mir zu, weil er was im Auge hat oder weil er flirten möchte? Stößt er ab und zu gegen mich, weil er einen schlechten Gleichgewichtssinn hat oder weil er meine Nähe spüren möchte? Ich habe so viele Fragen und alles was ich bekomme sind noch mehr Fragen oben drauf.
  Bin ich einfach nur verzweifelt, weil ich seit fünf Jahren Single bin? Ich detoxe jetzt schon so lange Männer, dass ich quasi wieder Jungfrau bin. Aber einfach mit dem nächstbesten Kerl ins Bett zu steigen, kann ich nicht. Will ich auch nicht. Ich verdiene bei weitem mehr als nur das nächstbeste.
  Ich verdiene einen wie Rurik, wenn er nicht so stur wäre und mich verdammt nochmal einfach küssen würde.
  Dass er mich eben nicht auf der Eisfläche geküsst hat, kratzt schon ein wenig an meiner Würde. Interpretiere ich zu viel in diese ganze Sache rein? Ich dachte eigentlich, dass ich eine recht gute Menschenkenntnisse habe. Ausgenommen von Rurik. Aus diesem Kerl werde ich wohl nie schlau. Er ist immer so reserviert und gelassen. Der strahlt eine Ruhe aus wie ein Stein. Ein wunderschöner Stein den man an einem Strandspaziergang, nah am Wasser findet und mit nach Hause nimmt, obwohl man genau weiß, dass man den eigentlich nicht braucht.
  Ja, genau. Rurik ist mein Stein. Ich habe ihn gefunden, aufgesammelt, mitgenommen und jetzt ist es Zeit ihn wegzuschmeißen, bevor es zu spät ist und das Kribbeln in seiner Gegenwart zu einem Feuer in mir wird.
  Rurik hat es endlich geschafft seine Schlittschuhe auszuziehen. Seufzend stehe ich auf, Rurik tut es mir gleich, fällt jedoch stöhnend wieder zurück auf die Bank.
  „Fühlen sich deine Füße auch so komik an?", fragt er grunzend. Rurik runzelt alles was man im Gesicht runzeln kann. Das wirft mich aus dem Gleichgewicht. Ich wollte wütend auf ihn sein. Wütend. Warum spüre ich also gerade das Bedürfnis zu grinsen?
  „Man gewöhnt sich dran." Selbst ich zucke wegen meines plötzlich harschen Tonfalls zusammen. Wenn ich ihn nicht wegen den ganzen Dingen von vorhin abgeschreckt habe, dann allerspätestens jetzt.
Das kann dir egal sein, versucht der sture Teil in mir auf mich einzureden. Liebe steht einfach nicht in deinen Karten.
  „Alles okay?" Rurik scheint meinen brüsken Ton ebenfalls wahrgenommen zu haben.
Mein bestes Soldaten Lächeln kommt zum Vorschein, auch wenn hin und wieder mein linker Mundwinkel zu zucken anfängt. „Alles super." Sobald ich zu Hause abgeschminkt, im Schlafanzug, in eines meiner Kissen geschrien habe, diesen Part behalte ich für mich.
  „Wollen wir?", frage ich. Irgendwie ist mir das alles sehr unangenehm, daher wundert es mich nicht, dass ich halb von ihm wegrenne, ohne zu schauen ob er überhaupt hinterherkommt.
  „What." Er betont das als eine Feststellung, nicht als Frage. Meine Ohren spitzen sich, wenn Rurik aufsteht. „Du möchtest jetzt schon gehen?" Es kann sein, dass sich der Glühwein von vorhin meldet und meine Wahrnehmung verzerrt, ich könnte aber schwören, dass er mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung anschaut.
  „Hast du nicht langsam die Nase voll von mir?"
  „What?" Diesmal meint er es als Frage. „Heute war fun."
  Meine Stirn runzelt sich. Anscheinend hatte er noch nie in seinem Leben richtig Spaß. Dabei springt er aus Flugzeugen, klettert auf die höchsten Berge und wrestlet mit Alligatoren in seiner Freizeit, soweit ich weiß.
  „Warum guckst du mich immer so skeptisch an?", kichert er. „Ich lüge nicht." Er hebt seinen Zeige- und Mittelfinger hoch. „I swear."
  Seine wackelnden Augenbrauen bringen mich zum lachen. „Hör auf mich so anzusehen." Ich schlage meine Hände vors Gesicht.
  „Also, können wir noch was unternehmen?"
  Ich spicke durch zwei meiner Finger hindurch und sehe wie Rurik seine Hand vor mir ausgestreckt hinhält. Sofort werden meine Knie weich. Mein Herz fühlt sich an wie Schokolade, was in einem Fondue Bad geschmolzen wird. Wie kann man da Nein sagen? Nicht, dass ich das vorgehabt hätte, aber selbst wenn ... Spätestens jetzt, wie er mich anschaut ist das unmöglich. Kann man Menschen mit einem bloßen Blick streicheln? Ich schwöre, er macht das gerade.
  Natürlich lege ich meine Hand in seine. „Wohin wollen wir jetzt?" So sehr wie ich mir wünsche, dass wenigstens eine Sache heute klappt, hofft ein kleiner Funken in mir, dass Ruriks Vorhaben ein genau so großer Reinfall wird wie das Eislaufen eben. Dann würde ich mich wenigstens nicht mehr ganz so schlecht fühlen.
  „It's a surprise."

Let's ChristmasWhere stories live. Discover now