2. Mein Fahrrad!

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Die Strapazen der Vorweihnachtszeit gingen früher los als erwartet, denn auf das, was der nächste Tag bringen würde, war ich ehrlicherweise nicht gefasst.

Mein Wecker klingelte früher als sonst und mein Körper spürte es deutlich.
Quälend langsam mühte ich mich aus meinem Bett, da streckte auch schon meine Mutter den Kopf zur Tür herein.

,,Ich muss los, soll ich dich wirklich nicht mitnehmen?"
Erst jetzt realisierte ich, dass heute der lang angekündigte Busstreik anfing und ich deswegen mit dem Fahrrad fahren musste. Ich schüttelte verschlafen den Kopf.
,,Das schaff ich schon."

Meine Mutter verabschiedete sich und ich wäre fast zurück ins Bett gefallen, doch riss mich gerade noch rechtzeitig zusammen.
20 Minuten später stand ich fertig, mit hochgesteckten Haaren und in meiner Winterjacke vor meinem Fahrrad und zog meine Fahrradhandschuhe über.

Dann nahm ich meinen Helm vom Regal. Er war schon älter und in einem hellen Blau, das einem in den Augen wehtat.

Nach dem gescheiterten ersten Versuch ihn aufzusetzen, machte ich meinen Dutt, der der Grund dafür war, wieder auf, flocht mir aber einen Zopf, um zu verhindern, dass der Fahrtwind mir später zum Verhängnis werden würde.

Der Weg zur Schule war nicht allzu weit, die Schule war nur zwei Orte weiter. Trotzdem war es mit dem Bus angenehmer, vor allem jetzt in der kalten Jahreszeit.
Bald fuhr ich an dem Ort vorbei, in dem Jonathan wohnte und erreichte kurz darauf die vordersten Ausläufer des Städtchens, in dem sich die Schule befand. Hier wurde auch der Weg durch die Natur zu einem städtischen Fahrstreifen für Fahrräder.

Der Fahrradweg war nass und nicht unbedingt angenehm zu befahren, da immer wieder Auto direkt neben mir vorbeizischten. Zum Glück war ich bald an der Schule angekommen, umfuhr einige jüngere Schüler und stieg vom Rad.
Während ich mein Fahrrad anschloss, hörte ich auch schon schnelle Schritte hinter mir.

Einen Moment später umarmte mich Pami stürmisch von hinten. Ich schloss schnell mein Fahrradschloss und hob einen Arm, um sie besser sehen zu können.
,,Guten Morgeen", quietschte sie gut gelaunt. Ich drehte mich in ihrem Armen und drückte sie an mich.

Seit diesem Schuljahr ging sie auch auf dieselbe Schule wie Jonathan und ich und war mächtig stolz darauf.
Plötzlich spürte ich eine Hand, die mir die Augen zuhielt und eine andere, die mich nach hinten an einen warmen Körper zog.
Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte in Jonathans lustig blitzende blaue Augen, die unter seiner dunklen Wintermütze hervorschimmerten.

Die beiden ließen mich los und ich hängte meinen Helm an den Fahrradlenker, bevor ich ihnen in die Schule folgte.
Drinnen verabschiedeten wir uns.
Pami hatte Biologie, Jonathan Deutsch und ich Mathe bei Herr Karlsen, der nun im neuen Schuljahr zwar nicht mehr unser Klassenlehrer war, aber trotzdem unser Mathelehrer geblieben war.

Manchmal, wenn ich ihn ansah, sah ich Kalle und es lief mir ein Schauer über den Rücken.
Dann erinnerte ich mich daran, wie er und Dean angerannt kamen und er Kalle festhielt und mich und Jonathan so rettete. Er war kein schlechter Mensch.
Und an manchen Tagen, wenn ich ihn ansah, sah ich nur einen erschöpften alternden Mann, der zuhause mit einem schwierigen Fast-Erwachsenen umgehen musste.

Heute sah ich Letzteres. Er hatte Augenringe, seine Bewegungen waren langsamer und er wirkte unkonzentrierter. Seine braunen Haare wirkten grauer denn je.
Ich wurde von Lotta, die neben mir saß, aus meinen Gedanken gerissen.
Sie saß verzweifelt über einer Aufgabe, die Herr Karlsen uns gerade gegeben hatte und ich seufzte und fing an zu erklären.

Nach Mathe hatten wir Erdkunde und in der Pause traf ich Jonathan wieder.
Pami stand ein wenig abseits mit einer Gruppe Freundinnen und der Bommel ihrer Mütze hüpfte auf und ab, während sie aufgeregt etwas erzählte.

Jonathan hatte beide Hände in den Taschen seines dunkelgrauen Anoraks vergraben und ich zog meinen Schal fester um den Hals. Es war viel zu kalt dafür, dass es noch keinen Schnee gab.
,,Ich kann jetzt nach Hause", informierte mich Jonathan.
,,Jetzt?", fragte ich erstaunt.
,,Ja, ich hab jetzt Entfall."

Ich grummelte etwas vor mich hin, da das hieß, dass ich ihn den Rest des Tages nicht mehr sehen würde.
Jonathan grinste. ,,Na komm, du kriegst den  restlichen Schultag auch alleine rum."

Ich nickte. Natürlich kriegte ich ihn alleine rum, ich war viel alleine gewesen. Aber etwas in mir sagte trotzdem, dass es damit nicht einverstanden war.
Aber wie wichtig war das schon.
Wir verabschiedeten uns am Ende der Pause, ich winkte Pami zu und dann ging ich wieder ins Schulgebäude, wo ich Leni und Frederick traf und mit ihnen zu Englisch ging, wo wir jetzt die Arbeit schreiben würden. Aber das machte nichts, ich war vorbereitet.

Im Klassenzimmer trafen wir Dean und Cora, mit denen ich nun, im letzten Schuljahr auch manche Fächer hatte, da wir alle zusammen Abitur machen würden.
Die Englisch Arbeit entpuppte sich als nicht übermäßig schwer und beschwingt machte ich mich nach der Arbeit auf den Weg zu meinem Fahrrad, das ich am äußeren Ende des Schulhofs angeschlossen hatte.

Allerdings begann ich bald genug dies anzuzweifeln. Denn als ich an dem Platz ankam, an dem ich es zurückgelassen hatte, lag dort nur noch mein babyblauer Helm.

Einen Moment war ich einfach nur verdutzt. Dann sah ich auf den mittlerweile regennassen Boden und mir viel auf, dass der Fahrraddieb noch nicht weit sein konnte, denn geregnet hatte es erst in den letzten 10 Minuten und der Fleck, auf dem mein Fahrrad gestanden hatte, wurde jetzt erst nassgeregnet.

Und ich schien tatsächlich recht zu behalten, denn als ich aufsah und mich umschaute, sah ich ganz am Ende der Straße einen kleinen blauen Punkt auf meinem Fahrrad.

Ich zögerte einen Moment, dann lief ich aber doch die Straße hinab.
Mit meiner Schultasche auf dem Rücken war ich zwar kein wirklicher Gegner, aber ich schaffte immerhin, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Stoßweise verließen weiße Wolken meinen Mund und die Sohlen meiner Winterstiefel quietschten, als würden sie protestieren.

Wenn ich das Jonathan erzählen würde! Der würde sich ärgern, früher gegangen zu sein! In der Befürchtung, den Dieb doch verloren zu haben, bog ich um die Ecke, doch er war noch in Blickweite.

Er fuhr die Straße entlang, jedoch lanhsamer als zuvor, so beschleunigte ich in der Hoffnung, ihn vielleicht doch zu erwischen. Ich lief noch ein bisschen schneller und fast konnte ich nach dem Gepäckträger greifen, da rutschte mein Fuß auf dem nassen Boden weg.

Ich erschrak und war schon darauf vorbereitet, mich im nächsten Moment auf den nassen Pflastersteinen wiederzufinden, aber ein Ruck unterbrach mich. Jemand hatte mich an der Schlaufe meines Rucksacks gepackt und mich wieder nach oben gezogen.

Stolpernd kam ich auf die Beine, doch als ich meinem Retter ins Gesicht sah, erschrak ich noch mehr und wich zurück, denn wer mir mitten ins Gesicht schaute, war niemand anderes als Kalle.

WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now