9. Der junge Mann am Telefon

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An diesem Abend lag ich im Bett und konnte wieder mal nicht schlafen.
Meine Gedanken kreisten um den Nachmittag im Krankenhaus.

Kalle hatte mir keinen Vogel gezeigt, wie ich halb erwartet hatte. Er hatte aber auch nicht zugestimmt.
,,Reden wir drüber."
Das hatte er gesagt. Reden wir drüber.
Morgen würden wir reden, das hatten wir ausgemacht, bevor ich zu Jonathan und Doktor Kristoph zurückgekehrt war.

Die beiden hatten mich merkwürdig und verwundert angeschaut, Doktor Kristoph hatte gefragt, ob ich Durchfall hatte.
Ich hatte gelacht.
Die Ereignisse hatten mich immer noch fest in der Hand. Kalle. Theo. Ihre Eltern?
Das ganze verwirrte mich einfach nur weiter.
Waren ihre Eltern nicht tot?

Und warum hatte ich mich auf das alles eingelassen? Theo war ein Fremder für mich. Ich war ihm nichts schuldig. Aber wenn ich ihm in die Augen sah, sah ich darin den stummen Hilferuf.

Stöhnend drehte ich mich auf die andere Seite. Was hatte ich mir da bloß wieder aufgehalst...

Als ich am nächsten Morgen aufwachte fühlte ich mich wie gerädert. Ich hatte das Gefühl, dass ich es in letzter Zeit einfach nicht schaffte, gut zu schlafen.
Vielleicht lag es an der Kälte, vielleicht am Stress, vielleicht an irgendetwas anderem, aber es ging mir allmählich auf die Nerven.

Heute war Mittwoch. Der dritte Advent war diesen Sonntag. Das alles ging wieder viel zu schnell. Als Kind hatte Weihnachten immer so lange gedauert, aber jetzt?
Klassenarbeiten, Schule, Sport, man hatte immer zu tun und das sorgte dafür, dass die Vorweihnachtszeit schneller verging, als man eigentlich wollte.

Heute Mittag würde ich mich mit Kalle treffen und mit ihm reden und das stresste mich noch mehr als mein schlechter Schlaf.
Was würde er mir sagen? Würde er handgreiflich werden und ich begab mich für nichts und wieder nichts in Gefahr?

Die Entscheidung kam mir heute noch lächerlicher vor als gestern. Wegen was wollte ich mich einmischen? Wegen Theo, den ich gar nicht kannte, der ein Problem mit seinem Bruder hatte, da dieser mehr über seine toten Eltern herausfinden wollte (?)

Das klang doch alles sehr fragwürdig und auch das mit der OP konnte ich nicht mehr wirklich ernst nehmen. Oder ich wusste zumindest nicht, was ich davon halten sollte.
Ich rieb mir über die Schläfen und entschied, diesen Konflikt einfach ruhen zu lassen und nicht aufzutauchen.
Es war ja sowieso nicht mein Problem, ja um Himmels Willen, ich konnte nicht einmal richtig mit Theo kommunizieren.
Das Ganze würde sich schon ohne meine Hilfe auflösen.

So begann ich meinen Schultag ganz normal, obwohl mir das alles weiter im Kopf herumgeisterte.
Ich redete ganz normal mit Leni, Frederick und Katrin, Leon war heute krank, und ich traf mich ganz normal in der Pause mit Jonathan und Pami und ich machte ganz normal im Unterricht mit.

Dabei fiel es mir am allerschwersten ganz normal mit Jonathan zu reden. Mein Gewissen biss mich regelrecht, ich hatte mich schon gestern bemühen müssen, ihm nichts zu erzählen.
Ich wollte es zwar schon, aber alles hinderte mich daran und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Ich ging nach der Pause weiter ganz normal in den Unterricht und der Tag verlief eigentlich ereignislos.
Ein paar Gespräche hier, ein bisschen Müdigkeit da, sonst passierte eigentlich nichts.

Ich kam nach Hause, machte mir die Portion Tortellini für heute in der Mikrowelle warm und aß, während ich meine Nachrichten durcharbeitete.

Lotta fragte nach den Hausaufgaben, Pami  die seit diesem Jahr ein Handy hatte, hatte mir ein lustiges Bild geschickt und Jonathan ein Herz. Ich lächelte. Eigentlich war alles wie immer.

Dennoch war ich unruhig und Kalle erwartete mich um jeder Ecke meiner Gedanken. Ich redete mir gut zu. Das ganze Theater war doch völlig unnötig, ich war ihm zu nichts verpflichtet.
Dann sah ich wieder Theos Augen vor mir und ich hätte schreien können.

Der Zeitraum unseres Treffens rückte an und vorbei und ich erwartete jeden Moment, dass mich eine wütende Nachricht oder Sonstiges von Kalle  erreichte. Aber es passierte nichts. Natürlich, die Sorge war völlig unberechtigt gewesen, denn Kalle hatte nicht einmal meine Nummer.

Langsam, im Laufe des Nachmittags wurde ich ruhiger. Alles war gut, kein Kalle weit und breit, alles war in Ordnung.

Meine Mutter kam ausnahmsweise früher nachhause und wir tranken sogar zusammen einen Tee, den sie mitgebracht hatte und unterhielten uns ein wenig.
Alles war in bester Ordnung.

Allerdings, wer hätte es erwartet, sollte es nicht so bleiben.
,,Elizabeth", rief meine Mutter mich nach unten.
,,Was ist denn?", reif ich zurück, schon auf der Treppe.

,,Ein junger Mann ist am Telefon, er sagte, er müsse dringend mit dir sprechen."
Mir blieb fast das Herz stehen.
Zögernd nahm ich das Festnetztelefon in die Hand.
Vielleicht war es ja nur Frederick oder Leon, die die Hausaufgaben wollten. Oder Dean, der mir mitteilen wollte, dass ich fürs nächste Spiel nicht mit auf dem Feld sein durfte, weil ich nicht oft genug beim Training war.
Aber alles Hoffen war vergeblich und wie erwartet, drang eine zu bekannte Stimme aus dem Telefon.

,,Hallo Elizabeth."
Ich musste mich zusammenreißen, das Telefon meiner Mutter nicht gleich wieder in die Hand zu drücken.
Wenn sie erfuhr, dass ich wieder Kontakt zu dem Schläger von letztem Jahr hatte...
,,Hallo", antwortete ich trocken.

,,Hast du unser Treffen vergessen?"
,,Nein", erwiederte ich wahrheitsgemäß.
Schweigen war die Antwort darauf.
,,Hast du vor noch zu kommen?", fragte er nach einer Weile.
Eigentlich wollte ich wieder mit ,,Nein" antworten, vielleicht sogar mit ,,Nein, ganz bestimmt nicht!" aber ich tat es nicht.

,,Ich mach mich auf den Weg."

Und so kam es, dass Kalle und ich ungefähr eine halbe Stunde später zusammen in der Sitzecke des Krankenhauses saßen.
Kalle hatte Lebkuchen mitgebracht, das war allerdings nicht das einzige, was mich verwunderte, sondern es war mal wieder sein Verhalten.

War es alles nur gespielt, um mich rumzukriegen, um mich dazu zu bringen, ihm Glauben zu schenken?
Oder war es ernst gemeint und er hatte sich in etwas mehr als sechs Monaten wirklich so stark verändert?
Das konnte und wollte ich einfach nicht glauben und das war es, was mich auch so misstrauisch machte.
Wäre er gleich geblieben, wäre immer noch der Alte, der Wütende und Kontrollfreak wäre ich vermutlich weniger misstrauisch gewesen, als ich es jetzt war.
Dann hätte ich gewusst, was ich zu erwarten hatte. Aber jetzt?

Ich setzte mich mit einigem Abstand neben Kalle, also ans andere Ende der Sitzgruppe und drehte mich zu ihm.
So begann unser Gespräch, das vielleicht sogar die Grundlage dieser Weihnachtsgeschichte wurde.

WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now