10. Das Gespräch

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Kaum hatte ich mich gesetzt, begann Kalle zu sprechen.
,,Ich weiß leider nicht genau, wo ich anfangen soll. Ich könnte mich jetzt für die Geschehnisse von letztem Schuljahr entschuldigen, aber ich befürchte, das würde nichts bewirken, also kommen wir gleich zum Punkt." Er machte ein Pause.

Ich sah ihn an und hörte ihm aufmerksam zu, die Hände in den Schoß gelegt, aber weiterhin immer in Alarmbereitschaft.

,,Ich weiß auch nicht wie viel du, abgesehen von den wenigen unerfreulichen Informationen von letztem Schuljahr über mich weißt.
Eine wichtige Info hier ist, dass meine Eltern nicht mehr am Leben sind und ich und Theo deswegen schon lange bei meinem Onkel wohnen."

Ich nickte, sagte aber nichts, da ich nicht wusste, ob es Dean vielleicht in Gefahr bringen würde, wenn ich verriet, dass er mir das erzählt hatte.

Kalle fuhr ohnehin schnell fort, als wolle er nicht lange bei diesem Thema verweilen.
Wie merkwürdig, wenn das doch Teil seines Hauptziels zu sein schien.

,,Auf jeden Fall sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen, mein Vater war der Schuldige, in seinem Blut wurde genügend Alkohol nachgewiesen, um das zu bestätigen."

,,Und was genau willst du nun tun?"

Kalle zögerte kurz, dann schlug er die Augen nieder und sah auf den Boden zu seinen Füßen.
,,Beweisen, dass mein Vater unschuldig ist."

Da stellten sich mir allerdings einige Fragen.
,,Moment. Deine Eltern sind nach deinen eigenen Worten ja schon länger tot. Wie willst du an die nötigen Beweise kommen?"
Kalle setzte an: ,,Dazu komme ich gleich..."

,,Woher nimmst du überhaupt das Wissen, dass dein Vater unschuldig sein muss?"
Kalles Blicke durchbohrten mich und ich bereute fast gefragt zu haben, doch er antwortet mir.
,,Weil ich meinen Vater im Laufe meines ganzen zwölfjährigen Lebens bis zu diesem Zeitpunkt keinen Tropfen Alkohol anrühren sehen habe."
,,Naja..."
,,Ich weiß", Kalle unterbrach mich, bevor ich mich dazu äußern konnte.
,,Ich weiß, das muss nichts heißen, aber ich kann es mir, egal wie oft ich es versuche, einfach nicht vorstellen. Kannst du das nicht verstehen?"

Ich wiegte den Kopf, nickte dann aber.
,,Doch schon. Aber wie soll ich dir dabei denn helfen?"
,,Den Plan können wir später noch besprechen."

Den Plan. Fast hätte ich laut loslachen können.
Allerdings fiel mit ein, was ich eventuell noch mitbesprechen sollte, da das der eigentliche Grund für mein Erscheinen war.

,,Eine Frage hätte ich noch, wenn ich fragen darf?"
Kalle nickte.
,,Was hat es...mit der Operation auf sich?"
Kalle zog die Augenbrauen hoch.
,,Operation?"
,,Theo hat mir...erzählt, dass du ihn zwingen willst, dass er sich operieren lässt."

Kalle sah mich erst weiter verwirrt an, dann schien ihm ein Licht aufzugehen.
Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Schläfen.
,,Das ist ein schwieriges Thema."
Das war es in der Tat und das war auch, was mir Sorgen machte.
,,Und?"

Ich überkreuzte die Beine, was vermutlich noch mehr zu meiner Abwehrhaltung gegenüber diesem Jungen beitrug.

Kalle seufzte.
,,Eigentlich geht dich das überhauot nichts an, aber Theo scheint dich ja darauf angesetzt zu haben."
Da vermutete er leider richtig, was ich aber weder bestätigte noch verneinte.
,,Theo ist, wie du sicher schon mitbekommen hast, taub."
Ich nickte.

,,Das stimmt aber nicht ganz, denn eigentlich fällt er unter die Kategorie taubblind."
,,Das heißt? Meines Wissens nach kann er doch sehen?"

,,Das stimmt, momentan sogar noch verhältnismäßig gut, aber diese Fähigkeit hat schon abgenommen und wird vorraussichtlich, wenn er älter wird, rapide weiter abnehmen. Er ist jetzt 13, die Ärzte sagen, dass er mit spätestens 25 vollkommen blind sein wird."

Ich nickte stumm.
,,Das Problem ist, dass Theo sich, aus welchen Gründen auch immer, auf keinen Fall operieren lassen will und das geht mittlerweile allen auf die Nerven. Gezwungen werden kann er theoretisch nicht, auch wenn er davor solche Angst hat."

,,Und er hat nie einen Grund genannt, warum er das nicht will?"
Kalle überlegte kurz.
,,Nein. Er meinte nur, dass er lieber sein Leben lang blind wäre, als operiert zu werden, um dies zu beheben."
Er lehnte sich zurück und blickte gen Decke. Sein Wesen wirkte müde, ähnlich wie meine Beobachtung an Herr Karlsen.

,,Wie auch immer, Theo wird wahrscheinlich heute entlassen, soll aber nächste Woche wiederkommen zum nächsten Gespräch.
Die Ärzte sind sehr großzügig mit ihrer Geduld, sie erhoffen sich einen Sinneswandel bis zum nächsten Mal, aber...naja. Theos Dickschädel ist mindestens so dick wie eine Backsteinmauer."

Ich nickte wieder nur mit dem Kopf, da ich nicht sicher war, ob er sich darauf eine Antwort erhoffte. Allerdings wusste ich auch nicht, wie ich in diesem Fall für Theo argumentieren sollte.
,,Wenn er nicht will, lasst ihn doch einfach", startete ich einen schwachen Versuch, hinter dem ich selbst nicht wirklich stand.
,,Wir sind kurz davor."
In Kalles Gesicht war die Anstrengung mit seinem Bruder zwar noch nicht so deutlich abzulesen wie in Herr Karlsens, aber in dem ein oder anderen gestressten Zug war sie zu erkennen.

,,Wie auch immer, wie wäre es, wenn wir besprechen, wie genau du deiner Eltern Unschuld beweisen willst?", lenkte ich sachte vom Thema ab.
Kalle ging schnell darauf ein und ich griff mir einen der Lebkuchen, die ich bisher nicht angerührt hatte, weswegen auch Kalle irgendwann aufgehört hatte, sie zu essen.
Vielleicht gaukelte ihm das ein wenig Vertrautheit vor, auch wenn ich immernoch mehr als einen Meter entfernt von ihm saß.

,,Im Prinzip hatte ich vor alte Spuren wieder auszugraben. Ich kenne ein noch paar Leute, die mit darin verwickelt sein könnten, ein paar habe ich auch schon besucht, aber sie hatten keine aufschlussreichen Informationen.
Aber ein Ehepaar hab ich noch auf dem Schirm."

,,Okey", sagte ich vorsichtig und bereute langsam, meine Hilfe für Theo als Hilfe für Kalle formuliert zu haben.
Aber nun war es zu spät.

WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now