3. Theo

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,,Theo!", brüllte Kalle.
Wie erstarrt blickte ich auf Kalles Gesicht, der mich bis jetzt keines Blickes gewürdigt hatte.
Er meinte offensichtlich den Jungen auf dem Fahrrad, doch dieser reagierte in keiner Weise, sondern fuhr einfach weiter.

Jedoch sollte seine Reise nicht mehr lange dauern, denn wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, schlingerte das Fahrrad und steuerte auf eine der Bänke zu, die am Rande des Wegs standen.
Dann ging alles ziemlich schnell und der Junge lag im Handumdrehen auf den Boden.

Kalle neben mir rannte los. Ich, immer noch in Schockstarre, und in absoluter Verwirrtheit gegenüber den Begebenheiten, die mir gerade widerfuhren, blieb erst stehen, lief ihm dann aber doch in einigem Sicherheitsabstand hinterher. Immerhin war das mein Fahrrad.

Im Näherkommen sah ich, wie der Junge sich aufrappelte und einen Moment stand er einfach nur da. Dann erreichte Kalle ihn und packte ihn mit der Hand an der Schulter. Zuerst wirkte es, als würden sie daraufhin mit viel Handgewedel mit ihm diskutieren, aber dann hörte ich, dass keiner der beiden auch nur ein Wort redete.

Auf kürzere Distanz besah ich mir den Jungen näher, der neben meinem am Boden liegenden Fahrrad stand.
Er sah Kalle ähnlich, sein Gesicht war zwar runder, der entscheidende Unterschied war allerdings die Brille mit den strahlend hellen Augen dahinter. 

Der Junge wirkte bis auf sein Gefuchtel mit den Händen nicht schwerwiegend verletzt.
Seine rechte Handfläche und linke Wange waren aufgeschürft, doch er stand aufrecht und sah Kalle wütend ins Gesicht.

Dieser sah ich nicht weniger missbilligend an. In seinem Gesicht spiegelte sich kein Hass, sondern mehr ein strenger, erwachsener Zug, den ich eher von Dean kannte und bei Kalle noch nie gesehen hatte.

Ich stand eine Weile neben den beiden Jungen, die scheinbar sehr vertieft waren und fühlte mich dezent fehl am Platze.
Mein Blick streifte mein Fahrrad, aber es sah aus, als hätte es außer ein paar Kratzern nicht sonderlich viel abbekommen.

Vorsichtig, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, lief ich um die beiden herum zu meinem Fahrrad, zog den verhakten Lenker aus der Armlehne der Bank und hob es auf.

Dann wusste ich nicht genau, was ich noch tun sollte. Sollte ich einfach aufs Fahrrad steigen und nach Hause fahren? Es war eine Option, allerdings war ich nun auch irgendwie neugierig, was das alles zu bedeuten hatte.

Wer war der Junge mit den blauen Augen, der offensichtlich Theo hieß und was machte Kalle hier? Und in welcher Beziehung standen die beiden?
Warum hatte Theo mein Fahrrad gestohlen und warum war er dann einfach in die Bänke gefahren? Und was sollte das Gefuchtel?

Letzteres war natürlich leicht zu beantworten, da sich aus dem Zusammenhang erschließen ließ, dass dieser ominöse Theo anscheinend taub war, weshalb er uns auch nicht gehört hatte, und Kalle auch deswegen in Gebärden mit ihm sprach.

Das war auch etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte und die Nähe zu dem Jungen, der uns letztes Schuljahr aus purem Egoismus und bösem Willen so viel Leid zugefügt hatte, machte mir, wenn ich ehrlich war, Angst.
Ein Herumdrehen, ein Zuschlagen und es war vorbei.

Doch es geschah nichts dergleichen und als die beiden augenscheinlich fertig mit diskutieren waren, sah Theo sehr ergeben aus.

Kalle drehte sich zu mir. Der braunäugige Blick des Jungen, der mich um Längen überragte, ließ mich frösteln und ich brauchte alle Kraft, um nicht samt Fahrrad in eine Verteidigungshaltung zurückzuweichen.

Dann seufzte Kalle und schlug die Augen nieder. Ich starrte ihn verdutzt an.
,,Es tut mir leid für die Umstände. Mein Bruder wollte dir nicht mutwillig das Fahrrad klauen, er brauchte nur ein ,,Fluchtfahrzeug"."

WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now