6. Nachwirkungen

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Einen Moment standen alle nur da, dann kniete Herr Hasrida sich neben den am Boden liegenden Jeremy.

Vorsichtig fasste er ihn an den Schultern und redete mit ihm, da er offensichtlich bei Bewusstsein war.
Aber Jeremy lag einfach nur auf dem Boden, die Arme um den Kopf geschlungen, den Körper gekrümmt.
Er keuchte und sein schmerzerfülltes Atmen füllte den ganzen Raum, kein anderes Geräusch war zu hören.

Alle standen hilflos um ihn herum, niemand rührte sich, niemand sagte ein Wort, bis Herr Hasrida Katrin anwies einen Krankenwagen zu rufen.

Katrin tat dies sofort und informierte mit ihrer stets ruhigen Stimme den Rettungsdienst über jegliche Umstände.

Unterdessen schien es Jeremy ein wenig besser zu gehen. Er lag nicht mehr so verkrampft und sein Atmen war leichter geworden. Nach einer Weile schaffte er es sogar die Augen aufzuschlagen und sich langsam aufzusetzen, während Herr Hasrida in stützte und ihn fragte, wie es ihm ging und was denn passiert sei.
Aber Jeremy blieb stumm, den Kopf auf eine Hand gestützt, bis der Rettungswagen eintraf, den Cora, die an der Tür der Turnhalle gewartet hatte, schließlich hereinbrachte.

Sie stellten Jeremy Fragen, die er, wenn überhaupt, flüchtig beantwortete. Nichts war darunter, was auf seinen gesundheitlichen Zustand schließen lies. 

Schlussendlich wurde er von den Rettungskräften zur Untersuchung mitgenommen, der Sportunterricht war damit aber eigentlich so gut wie gelaufen, genau wie unsere Noten, die wir eigentlich hätten machen sollen und Herr Hasrida bestand gnädigerweise nicht darauf, sie doch noch zu machen.

In der Mittagspause blieb es mir nicht vergönnt, Moni, Robin und natürlich Jonathan von den Geschehnissen zu berichten. Zusammen saßen wir auf der Fensterbank des Aufenthaltsraums und baumelten mit den Beinen. Meine Hand lag in Jonathans, der so versucht hatte, mich zu beruhigen, als ich mit den aufwühlenden Neuigkeiten angekommen war.

Zum Erstaunen aller war Jeremy bereits in Biologie, was nach der Mittagspause stattfand, wieder da. Er saß auf seinem Platz, als wäre nichts gewesen und es fragte auch niemand nach.

In Biologie saß ich neben Leni, die es sich nicht nehmen ließ, sich immer wieder nach hinten zu drehen, wo Leon und Frederik saßen.
Unser neues Thema hieß Immunbiologie und ich war interessiert daran, was wir noch alles darüber lernen würden, denn dieses Thema hatten wir bereits in der zehnten Klasse oberflächlich behandelt.

Die erste Stunde zum Thema war erstmal nur Wiederholung und damit irgendwie langweilig, aber großartig für mündliche Beteiligung.

Dennoch war ich irgendwie abgelenkt.
Nana, die neben Juli aus dem Eishockeyteam vor mir saß, meldete sich, um eine Frage über Immunzellen zu beantworten und an ihrem Arm sah ich die Narbe von ihrem Armbruch, verblasst, aber immernoch gut sichtbar und würde es vermutlich ihr Leben lang bleiben.

Die Stunde verlief ohne weitere Zwischenfälle, aber hin und wieder warf ich einen Blick zu Jeremy, der schräg vor uns in der Mitte des Klassenzimmers saß.
Er saß alleine, wie in eigentlich allen Fächern, und hatte die Stirn in die Hände gelegt. So saß er einfach nur stumm da, hin und wieder verkrampfte er sich kaum sichtbar, als würden dann und wann die Schmerzen kommen, aber still, das Gesicht dem Tisch zugewandt.

Jeremy wirkte nicht zerbrechlich, nein, er war schon längst kaputt. Verlassen von allen, vielleicht sogar von sich selbst, sein Selbstwertgefühl zerbrochen. Vielleicht hing er noch an einem seidenen Faden, aber wer konnte schon beurteilen, wie es in ihm aussah? Ich konnte es jedenfalls nicht.
Vielleicht war dem ja gar nicht so und ich schätzte es falsch ein, aber Kalle war Jeremys Idol gewesen, seine Bestätigung. Und jetzt, da Kalle weg war, war er übrig  geblieben, mit nichts und niemandem als Unterstützung und auch seine Gesundheit war wohl angeschlagen.

Jeremys Kopf rutschte ein Stück tiefer und für einen Momenrt wurde eine Narbe auf seiner Stirn sichtbar. Ich ging davon aus, dass diese ebenfalls an jenem verhängnisvollen Nachmittag entstanden war, Lenis Geschenk an ihn, fair aber doch nicht gerecht.

Ich schaute auf meine eigenen Finger, die auf meinem Block lagen und zwischen denen ein Stift steckte. Vorsichtig zog ich aus einem Impuls heraus meinen rechten Ärmel herunter und drückte mein Handgelenk etwas nach unten. Ein unangenehmes Gefühl wurde zu einem vagen Schmerz. Keine Narbe, aber auch eine Folge dieses Nachmittags.

Ich dachte über die vielen anderen Verletzten auf beiden Seiten nach.
Sicher hatten viele Spuren davongetragen, große, kleine, sichtbare und unsichtbare, vergessene und unvergessliche, welche für die wir vergeben haben, wie Nana und Leon und manche für die wir nicht vergeben können, wie ich Kalle für Jonathan.

Kalles Worte fielen mir ein. Dass er die Ursachen und Folgen seines Verhaltens ändern möchte, ja vielleicht sogar helfen wollte. Und wenn ich mich umsah, wusste ich, was er mit den Folgen meinte.
Die Narben würden nicht verschwinden, aber vielleicht ließen sich andere Dinge wiederherstellen.

Der Unterricht war bald vorbei, aber mein Gedankengang schien es nicht zu sein.
Der Tag war kurz, dennoch war mein Kopf hoffnungslos beschäftigt damit, kleine Details, die Folgen Kalles Verhaltens, zu bemerken.

Leider funktionierte das zu gut, viel besser als sich um meine Hausaufgaben zu kümmern.
Ich dachte an Lotta, die manchmal immer noch ängstlich die Arbeit einsteckte, wenn sie eine schlechte Note geschrieben hatte, an Leon, dem Nana zwar vergeben hatte, der ihr aber immernoch nicht näher kommen wollte, als unbedingt nötig, weil er sich schuldig fühlte, an Jeremy, der völlig ausgeschlossen von der Klassengemeinschaft lebte und litt, an die stetig schlechten Durchschnittsnoten unserer Klasse, vielleicht aus Erleichterung oder aus nachträglichem Widerstand.

Außerdem dachte ich an die schlechte Verbindung zu allen anderen Parallelklassen, mit denen wir jetzt zusammen Unterricht hatten, da Kalle uns abgekapselt hatte und wir so außer den Leuten aus dem Eishockeyteam niemanden aus den anderen Klassen kannten.

Deswegen waren wir nun die Kalle-Klasse, obwohl Kalle nicht mehr da war, die Außenseiter, obwohl das eigentliche Problem gelöst schien.
Letztes Jahr hatte es sich wir eine Heldentat angefühlt, dass wir es geschafft hatten. Wir hatten uns von Kalle befreit.
Aber wir waren keine Helden.
Was die anderen Klassen hinter vorgehaltener Hand über uns redeten, wurde von uns selbst gedacht.
Niemand hatte das letzte Schuljahr vergessen und würde es vergessen.

Vielleicht hatte Kalle recht und man musste sich um die Folgen kümmern. Vielleicht hatte er aber auch unrecht, da ich nicht wusste, wie das gehen sollte. Wo sollte man da anfangen und wie, wenn man nicht die Zeit zurückdrehen konnte?

WeihnachtswunderWhere stories live. Discover now