9. Die Sichtweise über den Umgang mit der Laune

1.4K 267 77
                                    

„Danke für den wunderbaren Kaffee", bedanke ich mich wenig später bei Mariella.

Sie legt ihre Hände wieder an mein Gesicht und drückt mir einen dicken Schmatzer auf die Stirn. „Komm bald wieder, Adam", lacht sie mich an und wendet sich Valentino zu, der bereits mit dem Autoschlüssel in der Hand spielt. „Und du auch, mi amore. Schlafen nicht vergessen."

„Si Mamma", antwortet er ergeben und grinst breit, als sie ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf gibt. „Ciao!"

Ich winke ihr zu und folge ihm zum Taxi, das in der brütenden Mittagshitze steht.

Valentino öffnet alle Türen und kurbelt die Fenster herunter, bevor er sich rücklings an die Motorhaube lehnt.

Ich vergrabe meine Hände in den Taschen und blinzle ihm gegen die Sonne entgegen. „Wollen Sie ... wollen Sie noch eine Zigarette rauchen?"

Ich erinnere mich, dass er bei unserer ersten Begegnung geraucht hat, auch wenn er so höflich war, dies nicht im Auto zu tun. Anders als der andere Taxifahrer.

Er schüttelt den Kopf und grinst. „No, no. Ich rauche eigentlich nicht mehr."

„Eigentlich?" Ich verkneife mir ein Lachen und den Spruch, dass eigentlich kein Wort ist.

Er legt seinen Kopf in den Nacken und schließt die Augen gegen die Sonne. Sein Mund ist zu einem zufriedenen Lächeln verzogen.

Dass es bestimmt schon fast dreißig Grad sind, scheint ihm überhaupt nichts auszumachen. Andererseits ist er das wahrscheinlich auch gewöhnt.

Ich hingegen, der fast ausschließlich an das regnerische Seattleklima gewöhnt ist, zerfließe fast schon in der Sonne.

Ich muss dringend auch eine Sonnenbrille und Sonnenschutzcreme kaufen.

Schnell ziehe ich mein Handy hervor und ergänze meine provisorische Einkaufsliste um meine beiden Einfälle.

„Ich rauche nur, wenn es mir schlecht geht", erklärt er, ohne die Augen zu öffnen.

Überrascht hebe ich die Augenbrauen und schiebe mein Handy zurück in meine Hosentasche.

Wenn es ihm schlecht geht?

Bedeutet das, gestern Abend ging es ihm schlecht? Und heute geht es ihm gut? Ich kann irgendwie keinen Unterschied zwischen seinem gestrigen und dem heutigen Verhalten feststellen.

„Oh", mache ich. „Aber ... bitte verzeihen Sie die Frage, aber ... Sie haben gestern auch so viel gelacht wie heute."

Er öffnet die Augen und blickt mich direkt an. „Ja", gibt er zurück. „Warum nicht?"

Ich zucke verdattert mit den Schultern. „Naja ... wenn es mir schlecht geht, lache ich meistens nicht."

Valentino winkt ab und rollt mit den Augen, als verstünde ich das Offensichtliche nicht. „Aber es war nicht deine Schuld, dass es mir schlecht ging. Warum soll ich nicht zu dir lachen? Wenn du schuld bist, lache ich nicht zu dir. Wenn du nicht schuld bist, lache ich."

Vollkommen entgeistert glotze ich ihn an.

Seine Einstellung ist ebenso nachvollziehbar wie bewundernswert, dennoch ist mir durchaus bewusst, wie vielen Menschen genau diese Sichtweise oder Umsetzung schwerfällt. Oftmals ist es doch so, dass Leute ihre schlechte Laune nur allzu gern an ihren Mitmenschen auslassen.

„Fahren wir?", unterbricht er meine tiefsinnige Grübelei. „Taxi ist keine Sauna mehr." Mit einem breiten Lächeln steigt er ein und auch ich mache es mir wieder auf der Rückbank bequem.

Noch während er das Gaspedal durchtritt und laut Musik von Måneskin aufdreht, überlege ich krampfhaft, wohin ich eigentlich ursprünglich fahren wollte.

•••

Zu meiner – und vielleicht sogar zu seiner – Verblüffung hält Valentino etwa eine halbe Stunde später auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums.

Ich verkneife mir eine Bemerkung darüber, dass er wahrscheinlich selbst nicht damit gerechnet hat, mich an meinem gewünschten Ort abzuliefern, denn ich könnte mir vorstellen, dass er so etwas öfter von seinen Fahrgästen zu hören bekommt, wenn ich den Worten des Rezeptionisten von gestern Abend Glauben schenke.

Andererseits würde ich Valentinos Fahrdienste denen des qualmenden Taxifahrers von heute Morgen jederzeit vorziehen.

Staunend blicke ich auf das Taxameter, dessen Anzeige deutlich weniger, als ich erwartet hätte, anzeigt. „Sicher, dass das Ding nicht kaputt ist?"

Er dreht sich zu mir nach hinten, das fröhliche Lächeln wieder auf seinem Gesicht. „Nein, nein. Ist ganz."

Schulterzuckend suche ich ein paar Scheine aus meinem Geldbeutel und schiebe ihm den Betrag plus einen beträchtlichen Anteil Trinkgeld rüber, ehe ich aussteige und die Tür zuschlage.

„Danke, Adam." Grinsend stopft er das Geld in die vordere Tasche seines kurzärmeligen Hemds und beugt sich herüber, um mich durch das heruntergekurbelte Beifahrerfenster anzusehen. „Wenn du eine Taxi brauchst, rufst du an."

„Mache ich", erwidere ich und drehe mich kurz zu dem Einkaufszentrum hinter mir, um mir ein wenig Orientierung zu verschaffen. „Für welches Taxiunternehmen–", setze ich an, doch als ich mich wieder der Straße zuwende, fährt das Auto bereits davon.

Seufzend und kopfschüttelnd blicke ich dem gelben Fahrzeug hinterher.

In meinem ganzen Leben bin ich noch keinem Menschen wie Valentino Fiore begegnet.

Und als hätten anderen Menschen aus meinem Leben die Ohren geklingelt, vibriert genau in diesem Moment mein Handy in meiner Hosentasche.

„Hey Eve", beantworte ich den Anruf, während ich noch immer an der Straße stehe und weiter hinten Valentinos Taxi aus meinem Blickfeld verschwinden sehe.

„Was bringt dich denn so zum Lachen? Ist Texas so witzig?"

Ich gluckse leise vor mich hin.

Spätestens beim ungeplanten Halt an der Tankstelle  vorhin wäre sie vollkommen ausgerastet.

„Es ist auf jeden Fall komplett anders als erwartet", plappere ich los. „Ich war heute früh schon in der Prärie spazieren und dann habe ich den besten Kaffee außerhalb Italiens getrunken und jetzt muss ich mir neue Schuhe und Sonnencreme kaufen."

Sie schnappt nach Luft. „Adam, sicher, dass alles okay ist? Hast du einen Sonnenstich? Hat dir jemand was in den Kaffee gemischt?"

Ich lache. „Mir geht es hervorragend. Wie geht es dir?"

„Bei mir ist alles wie immer. Ich wollte mich nur erkundigen, was du so machst. Hast du dich schon nach Wohnungen umgesehen?"

Augenrollend bewege ich mich auf den Eingang des Einkaufszentrums zu. „Eve, ich bin gerade mal einen Tag hier. Das Motelzimmer habe ich für eine Woche mieten können. Mindestens. Lass mich doch erst mal ankommen."

„Ich meine ja nur." Da ist wieder ihr schnippischer Unterton, den ich nur allzu gut kenne. „Du kommst sonst für die nächsten zwei Monate an."

„Ich kaufe mir jetzt erst einmal Sonnencreme und bequeme Schuhe und dann sehe ich weiter", antworte ich energisch und betrete das riesige, gläserne Gebäude durch die rotierende Drehtür. „Ich melde mich wieder. Grüß Luke von mir."

Ehe ich mich weiter von ihr belehren lassen muss, beende ich den Anruf und schiebe das Handy zurück in meine Hosentasche.

Ich liebe Eve und ich vermisse sie, aber ich muss zugeben, dass ich mich hier in der Fremde ohne ihre dauerhafte Kontrolle mit jedem weiteren Schritt – sandig oder nicht – freier und unbeschwerter fühle.

Richtungswechsel | ✓Where stories live. Discover now