11. Der antike Flyer aus der Jahrtausendwende

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An der Rezeption des Motels scheint bereits der Schichtwechsel stattgefunden zu haben, denn der ältere Mann, bei dem ich gestern Abend eingecheckt habe, kommt nun wieder an den Tresen, nachdem ich auf diesen ominösen Klingelknopf gedrückt habe.

Kaum zu glauben, dass ich erst seit einem Tag hier bin. Allein heute habe ich schon so viel erlebt, dass es sich beinahe wie eine ganze Woche anfühlt.

„Guten Abend, hätten Sie vielleicht den ein oder anderen Lieferservice, den Sie mir empfehlen könnten?", erkundige ich mich.

Der Mann glotzt mich fragend an.

„Äh ... ich habe zwar ein paar Kleinigkeiten in meinem Zimmer, aber etwas Warmes wäre auch einfach fantastisch", führe ich mein Anliegen näher aus.

Wortlos dreht er sich um und zieht eine Schublade hinter sich auf, in der er sogleich herumwühlt. Schließlich wirft er mir einen zerfransten Flyer auf den Tresen und zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Die haben mal einem Gast eine Pizza geliefert. Hat aber wohl beschissen geschmeckt."

Ich zwinge mir ein höfliches Lächeln aufs Gesicht und ziehe das abgegriffene Papier mit den ausgeblichenen Bildern zu mir heran.

Nennt man diese Art die texanische Offenheit? Gibt es sowas?

Nun, ich habe leider keine Wahl. Entweder esse ich ein paar Scheiben Brot ohne Butter und den restlichen Joghurt in meinem Zimmer oder ich versuche es mit einer qualitativ mittel- oder gar minderwertigen Lieferpizza.

Geschmack liegt ja auch immer im Auge des Betrachters, oder?

Ich werfe einen Blick auf den Prospekt und überfliege die Angebote und schlecht belichteten Bilder von Pizza, Salaten und anderen Mahlzeiten.

Ob dieses Ding schon nach der Jahrtausendwende gedruckt wurde? Das zweifle ich gerade stark an.

„Wissen Sie denn, ob dieser Laden noch existiert?", frage ich den Mann skeptisch.

Wieder zuckt er mit den Schultern und rollt dabei noch mit den Augen. „Keine Ahnung, Mister. Ich esse das, was meine Frau mir kocht."

Mit einem weiteren gezwungenen Lächeln nehme ich den Flyer an mich. „Okay, dann ... äh ... versuche ich mal mein Glück."

Sein faltiger Finger zeigt auf das Pamphlet in meiner Hand. „Das bleibt aber hier."

Verblüfft hebe ich meine Augenbrauen und schiebe das abgegriffene Werbepapier wieder auf den Tresen. „Sie wollen das behalten?"

„Natürlich. Wenn jetzt noch ein anderer Gast kommt und wissen will, wo man was bestellen kann, hab ich sonst nichts da."

Ergeben hebe ich die Hände und gehe langsam rückwärts in Richtung Ausgang. „Alles klar, dann ... ich versuche mal anders mein Glück oder bleibe bei meinen Snacks."

Kopfschüttelnd trete ich nach draußen und bleibe einen Moment in der milden Abendluft stehen.

Die Sonne ist gerade untergegangen und alles ist noch in dieses dunkle Orange gehüllt, das die letzten Strahlen zurückwerfen.

Mein Magen grummelt lautstark und ich presse meine Hand auf den Bauch.

Irgendetwas muss ich auf jeden Fall essen.

Zügig gehe ich am Gebäude entlang zu meiner Zimmertür, als das Geräusch von Reifen auf der staubigen Einfahrt zu mir herüberdringt.

Die Scheinwerfer eines Taxis erleuchten die Hauswand und ich habe eine Idee.

Wenn dieses Taxi jemanden bringt, kann es doch vielleicht auch jemanden mitnehmen! Und der Taxifahrer weiß womöglich sogar noch eine Adresse, wo ich etwas zu essen bekomme!

Ich muss nur schnell in mein Zimmer, um mein Geld und mein Handy zu holen. Eilig renne ich zur Tür, schließe sie auf und blicke mich hektisch um.

Das Handy finde ich auf dem Nachttisch, doch wo ist mein Geldbeutel?

Fuck! Habe ich den irgendwo im Einkaufszentrum verloren?

Nein, dann hätte ich das Frittentaxi nicht bezahlen können.

Er muss hier irgendwo sein.

Vollkommen aufgeregt durchwühle ich die Tüten mit meinen Einkäufen des heutigen Tages und werfe kurzerhand das, was ich greife, aufs Bett. Einen Laufschuh, ein kurzes Laufshirt, eine kurze Laufhose, Laufsocken – ich habe echt eine komplette Ausstattung.

Da! Im zweiten Laufschuh in der Tüte steckt mein Geldbeutel. Vermutlich habe ich ihn vorhin beim Aussteigen einfach dort hineinfallen lassen.

Triumphierend recke ich meine Faust in die Höhe und sprinte zur Tür, in der Hoffnung, dass das Taxi noch nicht wieder weggefahren ist.

Ich reiße die Tür auf und stoße unsanft gegen einen Mann, der die Hand erhoben hat, um gerade zu klopfen.

Ich habe doch gar keine Pizza bestellt, ist der erste absurde Gedanke, der in meinem Kopf auftaucht.

Als ich aufschaue, blicke ich in die fröhlich funkelnden, braunen Augen von Valentino Fiore.

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