V. Manndeckung

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, gilt mein erster Gedanke weder dem Balken über meinem Bett, noch König Harald, der die Nacht erneut auf der Fensterbank verbracht hat und mich von dort aus herablassend anstarrt. Normalerweise fühle ich mich dadurch immer gestört, doch heute schenke ich ihm ausnahmsweise keine Beachtung. Stattdessen denke ich über meinen gestrigen Ausflug nach und darüber, dass ich zurzeit offensichtlich vom Pech verfolgt bin.

In Bergen leben über 270.000 Menschen. Damit ist es die zweitgrößte Kommune Norwegens und sicher kein kleines Dorf, in dem man zwangsläufig immer wieder den gleichen Leuten begegnet. Ich habe wirklich geglaubt, es wäre nichts dabei, einen kurzen Abstecher dorthin zu machen. Wie hätte ich denn auch ahnen sollen, dass ich von all den Menschen, die in dieser Stadt wohnen, ausgerechnet Lasse über den Weg laufen würde?

Lasse Elvik, zu Schulzeiten häufig nur „Streber" oder „Albino" genannt, ist einer meiner ältesten Freunde. Wir sind im selben Viertel aufgewachsen, haben schon als Kinder miteinander gespielt und die verrücktesten Sachen erlebt. Zusammen mit Rikard Haaland, dem Dritten im Bunde, waren wir jahrelang ein eingespieltes Team. Leider hat mein Karriereweg unserer Freundschaft nicht gutgetan. Nachdem ich unserer Heimat den Rücken gekehrt habe, ist der Kontakt zwischen uns immer weniger geworden.

Zuletzt habe ich es sogar regelrecht vermieden, an die beiden zu denken, um mich nicht mit meinem schlechten Gewissen auseinandersetzen zu müssen. Immerhin ist es in erster Linie meine Schuld, dass ich mit meinen ehemals besten Freunden heute kaum noch etwas zu tun habe. Das einzig Gute ist, dass es zwischen uns nie Streit gegeben hat. Es herrscht keine feindselige Stimmung – zum Glück, denn sonst würde Lasse mich garantiert nicht freiwillig in Knarvik besuchen kommen.

Gestern am Schalter haben wir nur kurz miteinander gesprochen. Auf seine neugierigen Fragen hin musste ich ihm erklären, dass ich momentan meine Großmutter besuche und ihn im selben Atemzug darum bitten, meine Anwesenheit nicht an die große Glocke zu hängen. Überraschenderweise hat Lasse nicht weiter nachgebohrt, sondern nur genickt und mir angeboten, heute vorbeizukommen, damit wir nach all der Zeit nochmal etwas gemeinsam unternehmen.

Ich habe zugestimmt, ohne großartig darüber nachzudenken. Inzwischen frage ich mich, ob das eine gute Idee war. Vermutlich eher nicht, aber was soll's. Lasse abzusagen, weil ich Angst habe, dass er die Wahrheit über meine Rückkehr herausfinden könnte, verbietet sich von selbst. Sonst ist er am Ende doch sauer auf mich und das möchte ich unter keinen Umständen riskieren. Dass die Öffentlichkeit mich hasst, reicht mir schon vollkommen.

Seufzend stehe ich auf, ziehe mich an und mache mich im Badezimmer fertig, ehe ich die Treppe runter ins Erdgeschoss trotte. Aus der Küche dringt ein verführerischer Duft, doch ich kann mir bereits denken, dass ich wieder einmal leer ausgehen werde. Und siehe da – ich behalte Recht.

Als ich die Küche betrete, sehe ich meine Oma am Herd stehen, wie sie summend ein Festmahl für die Katzen zubereitet. Auf meinem Platz finde ich hingegen einen einsamen Teller mit Fladenbrot und Rührei vor.

„Ist das alles?", frage ich etwas enttäuscht und werfe König Magnus, der schnurrend um Omas Beine streicht, einen neidischen Blick zu. Dieser rote Wischmopp weiß gar nicht, wie gut er es hat.

„Also bitte, Jonatan!", werde ich prompt von meiner Großmutter getadelt. „Willst du vielleicht noch einen Kuss und 'ne Umarmung? Setz dich hin und iss, bevor ich's mir anders überlege!"

Stumm tue ich, wie mir geheißen und fange an, mein Frühstück in mich reinzuschaufeln. Viel Zeit habe ich nicht, denn genau genommen bin ich jetzt schon zu spät dran. Pünktlichkeit war leider noch nie meine Stärke. Lasse weiß das zum Glück, wir kennen uns schließlich nicht erst seit gestern. Wegen ein paar Minuten Verspätung wird er mir sicher nicht den Hals umdrehen. Das hoffe ich zumindest.

Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt