IX. Schwalbe

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Sobald ich die Einkäufe bei Oma abgeliefert habe, rufe ich Lasse an und beordere ihn ins Dorf. Ich muss dringend mit ihm sprechen. Zum Glück hat er gerade etwas Zeit übrig und lässt sich auf ein spontanes Treffen ein, obwohl er nicht einmal weiß, worum es geht. Das erzähle ich ihm lieber erst, wenn wir uns nachher sehen.

Kaum ist unser kurzes Telefonat beendet, mache ich mich auf den Weg zum Kvassnesstemma, das wir zu unserem heutigen Treffpunkt auserkoren haben. Es handelt sich dabei um ein kleines Wandergebiet am Ortsrand, dessen Mittelpunkt ein großer See bildet. Im Frühling brüten dort Enten und Schwäne, deren Nachwuchs jetzt im Herbst bereits ausgewachsen ist.

Auf einigen verwitterten Schildern wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Tiere nicht gefüttert werden sollen, aber daran wird sich nur bedingt gehalten. Folgerichtig sind die meisten von ihnen sehr zutraulich und haben keine Scheu vor Menschen. Ich wiederum bin leicht nervös, denn seit ich als kleines Kind miterleben musste, wie mein Opa von einem wütenden Schwan angegriffen und verfolgt wurde, habe ich durchaus Respekt vor diesen Vögeln.

Lasse ist natürlich wieder als Erster da und ich frage mich insgeheim, wie er das angestellt hat. Von Bergen aus braucht er mindestens eine halbe Stunde, um hierher zu fahren. Vermutlich ist er gerast wie ein Irrer, nur um vor mir am Treffpunkt zu erscheinen und so zu tun, als hätte ich mich verspätet. Sein breites Feixen untermauert meine Theorie, aber wenigstens verzichtet er heute auf blöde Späße.

„Was ist denn so wichtig, dass du mich unbedingt sprechen musst?", fragt er stattdessen und klingt dabei fast ein bisschen gelangweilt. Wahrscheinlich glaubt er, ich würde übertreiben.

„Es geht um Ingrid", antworte ich ohne Umschweife und marschiere mit großen Schritten los, weil ich keine Minute länger stillstehen kann. Kopfschüttelnd folgt Lasse mir, wobei ihm anzusehen ist, dass er im Augenblick überhaupt nichts kapiert.

Während wir den See umrunden und dabei versehentlich die eine oder andere Ente aufscheuchen, berichte ich ihm von meinem Ausflug in die Stadt, der damit geendet hat, dass ich Ingrid beim Rummachen mit einem anderen zuschauen musste. Es fällt mir wirklich schwer, darüber zu sprechen und gleichzeitig ruhig zu bleiben. Immer wieder schwillt meine Stimme an, ohne dass ich es beabsichtige.

„Warum hast du mir nicht erzählt, dass Ingrid einen Freund hat?", frage ich Lasse schließlich vorwurfsvoll, der mit ihr zusammen an der Universität Bergen eingeschrieben ist. Anders als er studiert Ingrid jedoch nicht Nautik, sondern Sozialwissenschaften.

„Ich dachte, es wäre dir egal", entgegnet er achselzuckend. „Du bist doch damals einfach abgehauen und hast sie links liegenlassen, weil du plötzlich der große Star warst." Sein tadelnder Unterton ist nicht zu überhören.

„Mann, weiß ich selber!", blaffe ich ihn an, da ich nun mal ungerne daran erinnert werde. „Trotzdem interessiert's mich, wenn sie einen Neuen hat! Also, wer ist der Kerl? Weißt du irgendwas über den?"

„Nicht viel", räumt Lasse achselzuckend ein. „Er ist etwas älter als wir und studiert Medizin. Das mit ihm und Ingrid läuft noch nicht so lange, glaube ich. Ach so, er heißt übrigens Olaf."

„Olaf", knurre ich gereizt, hole mit dem linken Fuß aus und kicke einen großen Stein weg, der mit einem leisen Platschen im See landet. „Was für ein Scheißname!"

Lasse quittiert meinen kleinen emotionalen Ausbruch mit einem erneuten Kopfschütteln. „Reg dich ab, Jonatan", meint er beschwichtigend. „Findest du nicht, dass du momentan andere Probleme hast, um die du dich eher kümmern solltest? Deine Karriere zum Beispiel. Angenommen, sie wäre wirklich vorbei – was würdest du dann machen?"

Vom plötzlichen Themawechsel überrascht, kneife ich die Augenbrauen zusammen, Tatsächlich habe ich daran noch keinen ernsthaften Gedanken verschwendet. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, in einem anderen Beruf als meinem jetzigen zu arbeiten. Lasse und Rikard sind derweil davon überzeugt, dass ich garantiert Fischer oder Holzfäller geworden wäre, hätte ich nicht zufällig ein Talent zum Kicken.

Letzterer hat es einmal sehr charmant formuliert: Machen wir uns nichts vor, Jonny. Wärst du nicht Fußballprofi geworden, würdest du heute Fischernetze zusammenknoten. Damals hätte ich Rikard am liebsten einen Ball an den Kopf gedonnert, aber heute glaube ich, dass er mit dieser Aussage gar nicht so weit daneben lag, im Gegenteil. Vermutlich hatte er einfach Recht.

„Keine Ahnung, was ich machen soll", gebe ich miesepetrig zu, hebe einen flachen Stein auf und versuche, ihn auf der Wasseroberfläche titschen zu lassen. Natürlich klappt es nicht. „Vielleicht bleibe ich für immer hier und werde Katzenfriseur."

„Lieber nicht", rät Lasse mir prompt davon ab. „Ich glaube, du hast keinen guten Draht zu Tieren."

Erstaunt sehe ich ihn an. „Wie kommst du denn darauf?", frage ich irritiert, weil ich mich selbst durchaus als Tierfreund bezeichnen würde. Es sei denn, das Tier ist groß, schwarz und heißt König Harald.

„Na ja, deswegen", antwortet er und deutet vielsagend auf meinen Jackenärmel. Etwa auf Schulterhöhe befindet sich dort ein ekliger, weißer Fleck, der aussieht wie ein fetter Vogelschiss.

Ich fluche laut und ziehe die Jacke aus, obwohl die Temperaturen heute weit unter 10 Grad liegen. Kommt es mir nur so vor oder ziehe ich Scheiße derzeit magisch an? Oder ist es vielleicht ein Zeichen des Universums, das mich daran erinnern möchte, wie beschissen mein Leben ist? Als ob ich das nicht selber wüsste. Angewidert klemme ich mir meine Jacke unter den Arm und schaue auf die Uhr.

„Hast du noch ein bisschen Zeit?", frage ich Lasse, der sich taktvollerweise das Lachen verkneift – oder zumindest versucht er es.

„Klar", erwidert er mit zuckenden Mundwinkeln. „Was hast du denn vor? Willst du nach Bergen fahren und Olafs Haus anzünden?"

„Auch keine schlechte Idee", kommentiere ich und muss bei der Vorstellung fast grinsen. „Aber das verschieben wir auf einen anderen Tag. Jetzt gehen wir erst mal was trinken. Ich lad dich ein."


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWhere stories live. Discover now