VI. Eigentor

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Der einzige Raum in Omas Haus, der über einen halbwegs guten WLAN-Empfang verfügt, ist das kleine Badezimmer im oberen Stockwerk. Nach einem reichhaltigen Abendessen sperre ich mich mit meinem Handy zusammen darin ein, um etwas zu tun, das ich bisher konsequent vermieden habe: Ich gebe meinen eigenen Namen in die Google-Suchmaschine ein, um mir einen Eindruck von der aktuellen Lage zu verschaffen.

Eigentlich würde ich lieber darauf verzichten, aber seitdem ich weiß, dass Lasse durch diverse Medienberichte von meinem Ausrutscher erfahren hat, kann ich kaum noch still sitzen. Die Welt da draußen zerreißt sich das Maul über mich und der Einzige, der davor die Augen verschließt, bin ich. Damit ist jetzt Schluss. Nach langem Zögern werde ich mich dem Medienecho stellen – und danach hoffentlich nicht kopfüber aus dem Fenster springen.

Auf dem Klodeckel sitzend starre ich meinen Handybildschirm an, während die Ergebnisse geladen werden. Meine Hände zittern und ich spüre, wie mein Herz höher schlägt. So nervös bin ich normalerweise nur, wenn ich verkatert zu Trainingseinheiten erscheine und Schiss habe, dass der Coach es bemerkt. Er würde mir, ohne mit der Wimper zu zucken, den Kopf abreißen – ich schätze, dasselbe blüht mir, sollten sich unsere Wege jemals wieder kreuzen.

„Heilige Scheiße!", rutscht es mir heraus, als die ersten reißerischen Schlagzeilen auf meinem Bildschirm aufleuchten. Was ich dort lese, übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen.

Nahezu alle britischen Medien haben sich meinen Fehltritt zunutze gemacht und eine Headline daraus gebastelt, eine peinlicher, demütigender als die andere. Je mehr ich überfliege, desto dringender wird mein Wunsch, mich augenblicklich in der Toilette zu ertränken. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so beschissen gefühlt. Nur mit Mühe bewahre ich die Fassung, als ich zwei der obersten Schlagzeilen lese:

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Neben einem schier grenzenlosen Schamgefühl verspüre ich auch so etwas wie Wut. Am liebsten würde ich jedes einzelne dieser Wurstblätter verklagen – The Sun, The Guardian und wie sie alle heißen. Ich wette, die Zeitungsfritzen hatten einen Mordsspaß, während sie ihre primitiven Artikel formuliert haben. Hoffentlich ersticken sie an ihrer Schadenfreude. Zähneknirschend lese ich weiter und stoße auf einen Beitrag der Daily Mail, der im Gegensatz zu den anderen tatsächlich mein Interesse weckt.

Drama um Rovers-Star Castberg: Mitspieler zeigen sich entsetzt

„Wir sind alle sehr schockiert. Menschlich gesehen bin ich enttäuscht von Jonny. Sein Verhalten ist absolut unprofessionell und zeugt nicht von Reife." (Simon Kjeldsen, Rovers-Kapitän und Nationalspieler Dänemarks)

„Ich hätte ihn für klüger gehalten." (Mike Madiot, Torhüter der Rovers und der Équipe Tricolore)

„Jonny ist ein Typ, der auch mal aneckt. Ich versuche aber, mich nicht von ihm ablenken zu lassen. Mein Ziel ist es, dem Team eine wichtige Stütze zu sein und dafür arbeite ich hart." (Rafael Lemos, Linksaußen und U21-Nationalspieler Portugals)

„Ein solcher Vorfall darf sich nicht wiederholen. Das wirft kein gutes Licht auf unseren Verein. Wir haben Jonatan vorläufig suspendiert und werden zeitnah Gespräche mit ihm führen. Dabei geht es auch um seine sportliche Zukunft." (Paolo Malfatti, Technischer Direktor)

Einen Moment lang habe ich das Gefühl, dass mir mein Abendessen wieder hochkommt. Die Kommentare meiner Mitspieler und des Technischen Direktors geben mir endgültig den Rest. Insgeheim habe ich auf Rückhalt innerhalb des Teams gehofft, doch diese Illusion hat sich binnen Sekunden in Luft aufgelöst. Das war's dann wohl mit meiner Karriere. Eine Rückkehr zu den Rovers scheint ausgeschlossen und nach allem, was passiert ist, kann ich mir kaum vorstellen, dass irgendein anderer Verein mich freiwillig verpflichten würde.

Gefrustet schalte ich das Handy aus, lehne mich zurück und lasse meinen Kopf auf den Spülkasten sinken. Ich schließe die Augen, wobei ich mein Leben wie einen Film an mir vorbeiziehen sehe. Noch heute denke ich gerne an jenen Tag zurück, an dem ich meinen Vertrag bei den Rovers unterschrieben habe. Damals waren sie noch in der EFL Championship vertreten und wurden kurz zuvor von einer einflussreichen Mailänder Investorengruppe übernommen.

Sie haben den Verein komplett umgekrempelt und unter anderem dafür gesorgt, dass die gesamte sportliche Führung sowie das Ärzteteam aus Italienern bestehen. Auch unser Trainer stammt ursprünglich aus dem Land, wo die Zitronen blühen. Sein Name ist Stefano Paciullo, er hat schlanke 58 Jahre auf dem Buckel und wird vereinsintern meist nur „Il Patrono" genannt. Außerdem spricht er kaum Englisch, was es mir von Anfang an schwer gemacht hat, eine Unterhaltung mit ihm zu führen, die aus mehr als zwei Sätzen besteht.

Wenn ich ehrlich bin, konnte ich ihn noch nie wirklich leiden. Im Prinzip ist Paciullo ein humorloser, eigenbrötlerischer Glatzkopf, der auf den ersten Blick zwar ruhig wirkt, aber während des Spiels gerne zu einem Zeter und Mordio schreienden Drachen mutiert. Genauso verhält es sich, sobald einer von uns Spielern aus der Reihe tanzt. „Il Patrono" ist bekannt dafür, hart durchzugreifen und selbst für kleinste Vergehen saftige Strafen zu verhängen.

Zusammengefasst gibt es nicht viel Positives über ihn zu sagen, außer, dass er etwas von Fußball versteht und eine ziemlich hübsche, achtzehnjährige Tochter hat. Auf Paciullos Geburtstagsparty, die er gemeinsam mit seiner Familie und dem kompletten Verein in einem Londoner Luxushotel gefeiert hat, sind Carlotta und ich uns etwas nähergekommen. Da viel Alkohol geflossen ist, habe ich jedoch ausschließlich bruchstückhafte Erinnerungen an diesen Abend.

Ich weiß nur, dass wir jede Menge Spaß hatten und dass irgendjemand uns heimlich dabei gefilmt haben muss. Auf der Party sind wir uns zum ersten und einzigen Mal begegnet, das Video kann also zu keinem anderen Zeitpunkt entstanden sein. Zwar traue ich eigentlich weder meinen Teamkollegen, noch einem anderen Mitglied des Vereins so eine hinterhältige Aktion zu, aber weil es nun mal eine geschlossene Veranstaltung war, kommt niemand Außenstehendes als Täter oder Täterin in Frage.

Meine Wangen sind feucht und ich stelle überrascht fest, dass ich angefangen habe zu heulen. Mit einem Fetzen Klopapier trockne ich mein Gesicht ab, doch das dumpfe Gefühl in meiner Brust bleibt hartnäckig bestehen. Erneut wird mir klar, dass ich alles verloren habe, aber ich kann einfach nicht begreifen, warum. Warum gibt es da draußen jemanden, der mich am Boden sehen möchte?

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken, sodass ich beinahe unsanft von der Toilette rutsche. „Jonny?", höre ich die besorgte Stimme meiner Großmutter, die offensichtlich verwirrt ist, weil ich mich seit einer halben Stunde in ihrem Badezimmer verbarrikadiere. „Was ist los, geht's dir nicht gut? Soll ich dir einen Kamillentee machen?"

„Nein danke, alles okay!", antworte ich hektisch, während ich mühsam mein Gleichgewicht wiederfinde. Nach kurzem Überlegen füge ich hinzu: „Bring mir lieber einen Schnaps!"


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWhere stories live. Discover now