XV. Sturm

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Bjørn-Inge Castberg, geboren 1974 in Bergen, ist ein ehemaliger Profifußballer und heutiger Kolumnist. Während seiner aktiven Karriere war er ausschließlich für den SK Brann Bergen aktiv und hält bis heute den vereinsinternen Rekord für die meisten gelben und roten Karten. Zum Nationalspieler hat er es im Gegensatz zu mir nie gebracht und ich glaube, insgeheim ist er deshalb neidisch auf mich. Ziemlich bescheuert, denn ich bin sein Sohn und eigentlich sollte er mir jeden Erfolg im Leben gönnen.

Wenn ich meinen Vater am Telefon richtig verstanden habe, ist er fuchsteufelswild wegen der Sache mit dem Video. Dabei war er selbst früher auch alles andere als ein Unschuldslamm. In seiner Autobiographie, die er nach seinem Karriereende veröffentlicht hat, schreibt er unter anderem über Schlägereien mit gegnerischen Fans, Auseinandersetzungen mit seinen damaligen Trainern und eskalierte Partys, die nicht selten zu wilden Orgien ausgeufert sind.

Papa war definitiv ein umstrittener Spieler, einer, der Aufsehen erregt hat. Wegen seiner aggressiven Spielweise, seinem Verhalten neben dem Platz und nicht zuletzt wegen seines Aussehens. Weil er damals schulterlange Haare und einen abartig langen Vollbart hatte, wurde er von der Presse häufig als „Thor" oder „Santa Claus" betitelt. Wenigstens ist er blond, sonst wäre womöglich noch jemand auf die Idee gekommen, ihn „Jesus" zu nennen.

Leider ist auch der Donnergott höchstpersönlich nicht vor Verletzungen gefeit. Nach zwei Kreuzbandrissen in Folge musste mein Vater seine Karriere schließlich wider Willen beenden. Wäre er davon verschont geblieben, hätte er garantiert noch einige Jahre weitergespielt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte Dreißig war. Stattdessen schreibt er nun regelmäßig seine Kolumne, gibt hier und da mal ein Interview und macht sich mit meiner Mutter ein schönes Leben.

Spätestens seit meiner eklatanten Suspendierung dürfte es jedoch vorbei sein mit der Ruhe. Ich spüre förmlich, wie sich ein Sturm über mir zusammenbraut. Unruhig sitze ich am Küchentisch und warte auf die Ankunft meiner Eltern, während sich der Aquavit mit der Trollkrem anlegt. Kein schönes Gefühl. Gigi wirkt trotz Alkohol auch nicht unbedingt zufrieden. Mit verdrießlicher Miene starrt er in sein Glas und sieht zwischendurch immer wieder auf die Uhr.

Die Minuten vergehen unendlich langsam. Mir kommt es so vor, als säßen wir schon seit einer halben Ewigkeit hier herum. Draußen hat es derweil aufgehört zu nieseln. Oma ist nach wie vor fleißig im Garten beschäftigt, ohne zu ahnen, dass gleich ihr Sohn und ihre Schwiegertochter vor der Tür stehen werden. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich sie vorgewarnt hätte, doch in meiner Überforderung habe ich das komplett vergessen.

Jetzt ist es ohnehin zu spät, denn ich höre, wie ein Wagen langsam den Schotterweg entlang rumpelt, der unmittelbar hierher führt. Wenig später erstirbt das Motorengeräusch und Autotüren werden krachend zugeschlagen. Vor lauter Anspannung zucke ich jedes Mal leicht zusammen.

„Es war schön mit dir, Gigi", sage ich dumpf, während sich schwere Schritte der Haustür nähern. „Grazie di tutto. Danke für alles."

Mein Berater gibt nur ein missmutiges Grunzen von sich. Für eine längere Antwort hätte er ohnehin keine Zeit gehabt, denn soeben wird die Tür aufgeschlossen und jemand betritt den Flur. Unwillkürlich halte ich den Atem an, starre auf meine Handflächen. Dies sind die letzten Sekunden, bevor ein Unwetter losbricht, dessen Ausmaß ich nur grob erahnen kann. Ich hoffe, dass es wenigstens schnell vorbeigehen wird.

„Jonny!" Die aufgeregte Stimme meiner Mutter veranlasst mich dazu, den Blick von meinen Händen abzuwenden. Mit ausgebreiteten Armen stürzt sie auf mich zu und fällt mir um den Hals. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!"

„Echt?", frage ich skeptisch und schaue über ihre Schulter hinweg zu meinem Vater, der im Türrahmen steht und den Kopf einziehen muss, damit er sich nicht stößt.

Wie alle Männer in unserer Familie ist er ziemlich groß, ich glaube, er misst etwa 1,95 m. Außerdem hat er die klassische, baumstammähnliche Statur eines Innenverteidigers – breitschultrig, kräftig und immer noch kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen. Seine Haare trägt er mittlerweile kurz und der Bart ist nicht mehr blond, sondern eher grau. Unter seinen buschigen Brauen, die er ruhig mal wieder zupfen könnte, funkelt ein hellblaues Augenpaar. Schlangenaugen.

„Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht!", blafft er und mustert mich wie einen Fremden. „Zu Recht, wenn ich dich so anschaue. Was ist bloß aus dir geworden, Junge? Du siehst aus wie dein eigener, dicker Bruder!"

„Das habe ich ihm auch schon gesagt", bemerkt Gigi trocken und ich werfe ihm einen missbilligenden Blick zu, den er jedoch geflissentlich ignoriert.

„Ach, du bist ja auch da", stellt Papa überrascht fest und runzelt im nächsten Moment misstrauisch die Stirn. „Wusstest du etwa schon die ganze Zeit, dass der Bengel sich hier versteckt? Warum hast du nichts gesagt?"

„Nicht die ganze Zeit", entgegnet mein Berater abwinkend. „Ich weiß es erst seit einer Woche. Glaub mir, ich war auch nicht glücklich darüber. Aber ich musste deinem Sohn versprechen, die Klappe zu halten."

„Warum wundert mich das nicht?", schnaubt Papa und fügt an mich gewandt hinzu: „Du warst ja schon immer einer von der feigen Sorte!"

„Inge, bitte!", schaltet sich meine Mutter ein, ehe ich überhaupt reagieren kann. Bittend sieht sie ihn an. „Wir haben darüber gesprochen. Du wolltest dich zurückhalten, schon vergessen?"

„Mensch, Gerda, denkst du, das habe ich ernst gemeint?", antwortet er zornig und knallt seine Handfläche auf den Tisch, sodass König Magnus, der bisher friedlich auf seinem Stuhl geschlafen hat, aufspringt und wie ein geölter, roter Blitz aus der Küche hechtet.

„Was ist hier los?" Anstelle des Katers betritt nun meine Großmutter den Raum, in ihren Arbeitsklamotten und mit Regentropfen auf den Brillengläsern. Die Anwesenheit meiner Eltern scheint sie nicht sonderlich zu überraschen. „Inge, warum schreist du so laut? Bist du mal wieder mit dem falschen Fuß aufgestanden?"

„Hallo, Mama", begrüßt mein Vater sie mit einem zynischen Funkeln in den Augen. „Gut, dass du da bist. Wärst du vielleicht so nett, mir zu verraten, wie lange Jonatan sich schon bei dir verkriecht und wieso du es nicht für nötig gehalten hast, uns Bescheid zu sagen?"


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWhere stories live. Discover now