VIII. Hawk-Eye

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Ich kann wirklich von Glück reden, dass meine Großmutter nicht allzu viel vom Fußballgeschäft versteht. Weil ich nun schon etwas länger hier bin und keinen Verdacht erregen möchte, habe ich ihr erzählt, dass ich vom Verein wegen akuter Überlastung auf unabsehbare Zeit freigestellt wurde. Oma hat mir diese billige Ausrede kommentarlos abgenommen und wie ich sie kenne, ist das Thema damit für sie erledigt.

Derweil habe ich ein Problem weniger – zumindest vorerst. Schließlich kann ich mich nicht ewig in Knarvik verstecken. Erstens ist das Dorfleben auf Dauer nichts für mich und zweitens werde ich mich der Außenwelt früher oder später stellen müssen. Stand jetzt bin ich aber noch meilenweit davon entfernt. Die Peinlichkeit und der Schock sitzen einfach viel zu tief. Ich hoffe, dass dieser seelische Schmerz mit der Zeit nachlässt. Bis es soweit ist, bleibe ich, wo ich bin.

Mittlerweile habe ich mich an meinen neuen Alltag gewöhnt, auch wenn die vielen Katzen mir zum Teil immer noch auf die Nerven gehen. Allen voran König Harald, der nach wie vor einen Groll gegen mich hegt. Dieser Kater verpasst keine Gelegenheit, mir zu zeigen, wer der Mann im Haus ist – nämlich er. Weil ich wiederum nicht scharf darauf bin, täglich als lebendiger Kratzbaum missbraucht zu werden, gehe ich ihm nach Möglichkeit aus dem Weg.

Wenn sie Zeit haben, treffe ich mich mit Lasse und Rikard. Ansonsten sorgt Oma dafür, dass ich beschäftigt bin, indem sie lästige Arbeiten, die verrichtet werden müssen, kurzerhand auf mich abwälzt. Heute zum Beispiel hat sie mir etwas Geld in die Hand gedrückt und mich nach Bergen geschickt, damit ich für sie auf dem Fischmarkt einkaufen gehe. Heringe, Königskrabben und noch ein paar andere Kleinigkeiten, die sie zum Kochen benötigt.

Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich begeistert über diese Aufgabe bin. Zum einen muss ich wieder über die ätzende, schwindelerregende Brücke fahren und zum anderen tummeln sich auf diesem Markt jede Menge Leute. Die Gefahr, erkannt zu werden, ist also drastisch erhöht. Von meinen Bedenken kann ich Oma aber schlecht erzählen und da mir spontan keine glaubwürdige Ausrede einfällt, mache ich mich zähneknirschend auf den Weg.

Der Fischmarkt, auf Norwegisch Fisketorget, existiert bereits seit dem 13. Jahrhundert. Er befindet sich in der Innenstadt, am östlichen Ende der Vågen-Bucht, die zum Hafen von Bergen gehört. Anders als früher wird dort heutzutage nicht mehr nur Fisch verkauft, sondern auch andere Produkte wie Obst, Gemüse, Elch- und Rentierfleisch. Neben Einheimischen sind hier außerdem zahlreiche Touristen unterwegs, die zwar in der Regel nichts kaufen, dafür aber den gesamten Verkehr aufhalten, weil sie sich alles ganz genau anschauen müssen.

An einem normalen Wochentag wie heute herrscht zum Glück etwas weniger Betrieb. Das Wetter spielt mir zusätzlich in die Karten – immer wieder ziehen kurze, heftige Regenschauer über die Stadt, weshalb sich die meisten Menschen Kapuzen oder Mützen in die Stirn gezogen haben. Meine eigene Tarnung fällt also gar nicht weiter auf. Mit Omas Einkaufszettel in der Hand steuere ich auf die Verkaufsstände zu, doch auf halbem Weg bleibe ich stehen.

Mir wird plötzlich bewusst, wie sehr ich diesen Anblick vermisst habe. Die Dächer meiner Heimatstadt vor der Kulisse dicht bewaldeter, wolkenverhangener Hügel. Ihnen verdankt Bergen seinen Beinamen Syvfjellsbyen, der übersetzt so viel wie „Stadt der sieben Hügel" bedeutet. Über die tatsächliche Anzahl der Hügel, welche die Stadt umgeben, wird zwar bis heute gestritten, aber mich persönlich interessiert das herzlich wenig. Ich liebe Bergen. Punkt.

Nur widerwillig reiße ich mich los und gehe weiter. Wie erwartet gestaltet sich der Einkauf etwas mühselig, denn zwischen den vielen einzelnen Ständen fällt es mir schwer, mich zu orientieren. Da ein Großteil der Leute aufgrund des schlechten Wetters mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf durch die Gegend wuselt, werde ich außerdem ständig von irgendwem angerempelt.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde habe ich fast alle Punkte auf Omas Liste erledigt, bin dafür aber komplett genervt. Am liebsten würde ich auf der Stelle nach Hause fahren, aber vorher muss ich noch den letzten Punkt abhaken und frischen Lachs besorgen. Natürlich befindet sich der entsprechende Stand am anderen Ende des Marktes und als ich dort ankomme, stopft sich der Verkäufer gerade seine Pfeife.

Er ist ein großer, kräftiger Kerl mit wettergegerbtem Gesicht und einem grauen Bart, der ihn recht alt aussehen lässt. Vermutlich hat er sein Leben lang auf einem Fischkutter gearbeitet oder als Matrose auf hoher See. Dazu passt auch seine uncoole Fischermütze, die ihre besten Tage bereits hinter sich hat – genau wie ihr Besitzer.

„Kann ich dir helfen?", fragt er mich mit seiner Pfeife zwischen den Zähnen, sodass ich Schwierigkeiten habe, ihn zu verstehen.

„Ja, ich hätte gerne fünfhundert Gramm Lachs", antworte ich höflich, doch im selben Moment läuft eine Frau mit einem Baby auf dem Arm an mir vorbei, dessen schrilles Geschrei meine Worte übertönt.

„Wie bitte?", fragt der Typ verdutzt, kratzt sich am Hinterkopf und bläst mir einen Mund voll Qualm ins Gesicht. „Sprich mal 'n bisschen lauter, Junge!"

„Fünfhundert Gramm Lachs!", schnappe ich, diesmal schon ziemlich gereizt. Einige Leute drehen sich zu mir um und der bärtige Verkäufer starrt mich mit großen Augen an.

„Schrei doch nicht so", sagt er geplättet, nimmt einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und fängt an, den Fisch abzuwiegen. Na endlich.

Wenig später verlasse ich den Markt, schwer bepackt mit mehreren Einkaufstüten. Ich ärgere mich, dass ich etwas weiter entfernt geparkt habe, denn ausgerechnet jetzt fängt es wieder an zu schütten. Ein kalter Wind fegt durch die Straßen, das Kopfsteinpflaster ist nass vom Regen. Meine Laune sinkt mit jedem Meter und ich möchte nur noch weg, doch plötzlich entdecke ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mädchen, deren blondes Haar und zierliche Statur mir äußerst bekannt vorkommen.

Trotz Kälte und Regen bleibe ich wie angewurzelt stehen und beobachte sie aus der Ferne. Wie sie dort lässig am Zaun lehnt, der das Ludvig-Holberg-Denkmal umgibt und auf ihr Handy schaut. Von Zeit zu Zeit hebt sie den Kopf und sieht sich nach allen Seiten um, als würde sie auf jemanden warten. Nur mich bemerkt sie nicht. Ich fühle mich derweil wie vom Blitz getroffen. Das ist jetzt das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass ich zufällig jemanden wiedersehe, den ich aus einem früheren Leben kenne.

Trotz der Entfernung habe ich keinerlei Zweifel daran, dass sie es ist. Ingrid Backer, meine Kindheitsfreundin und das erste Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Leider ist sie gleichzeitig auch das erste Mädchen, dem ich das Herz gebrochen habe und zwar, indem ich damals von einem Tag auf den anderen nach England gezogen bin, ohne mich großartig darum zu kümmern, wie es ihr damit ging. Ich habe es verbockt, aber ich habe sie nie vergessen.

Obwohl ich jede Wette darauf abschließen würde, dass sie mich hasst, verspüre ich den dringenden Impuls, sofort zu ihr rüber zu laufen und sie zu umarmen. Ohrfeige hin oder her – ich muss einfach mit ihr sprechen. Doch gerade, als ich mich in Bewegung setzen will, taucht von irgendwoher ein Typ auf, der zielstrebig auf Ingrid zusteuert und sie zur Begrüßung auf den Mund küsst. Statt sich dagegen zu wehren, erwidert sie den Kuss leidenschaftlich.

Ich bin so perplex, dass ich beinahe meine Einkaufstüten fallen lasse. Bestürzt verfolge ich die Szene, die mich weitaus mehr trifft, als sie sollte. Schließlich bin ich Derjenige, der Ingrid damals hat sitzenlassen, weil mir meine Karriere wichtiger war. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass Jahre später ein peinliches Sex-Video meine fußballerische Laufbahn auf die denkbar unangenehmste Weise beenden würde, wäre ich gleich in Norwegen und damit bei ihr geblieben.

Zu spät, lästert eine gehässige Stimme in meinem Hinterkopf und ich presse die Lippen fest aufeinander, um ein Fluchen zu unterdrücken. Ingrid und ihr Macker sind immer noch mit knutschen beschäftigt, während ich im Regen stehe wie ein begossener Pudel und mir die Frage stelle, warum mich das Leben eigentlich so hart bestraft. Ja, ich habe Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen, aber ich kann's nun mal nicht ändern. Wenn ich könnte, würde ich es sofort tun.


Vom Fußballer, der über seine Bälle stolperteWhere stories live. Discover now