41. Kapitel

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Rache ist Eingeständnis des Schmerzes.

Lucius Annaeus Seneca

Vala fuhr hoch und übergab sich in einen Eimer, den jemand neben dem Sofa, auf dem sie lag, hingestellt hatte

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Vala fuhr hoch und übergab sich in einen Eimer, den jemand neben dem Sofa, auf dem sie lag, hingestellt hatte. Als sie sich wieder aufsetzte, ging es ihr noch schlechter als zuvor. Auf ihrer Stirn lag ein nasser Lappen, den sie unwillig wegriss. Mit einer Plötzlichkeit, die sie nicht erwartet hatte, bohrte der Schmerz sich in ihr Herz und ließ sie aufkeuchen. Shamal... Tot...

»Ganz ruhig.« Die Stimme gehörte einem Mann, der etwas abseits auf einem Stuhl saß und ein Buch gelesen hatte, das er nun auf den niedrigen Glastisch legte. Er stand auf, trat zu ihr und musterte sie eingehend. Dann nahm er ihre Hand und legte zwei Finger auf ihr inneres Handgelenk. Nach einiger Zeit nickte er. »Wie fühlst du dich?«

»Schlecht«, krächzte Vala und atmete tief ein und aus. »Wo ist Shamal?«

Der Mann schaute sie traurig an. »Wir haben den Jungen allen Ehren gebührend begraben lassen.«

»Wo?«

»Außerhalb der Stadt. Sein Grab ist mit einem großen Stein markiert. Ohne Aufschrift. Wir kannten seinen Namen nicht. Möchtest du hingehen?«

Vala schluckte. »Ja.«

Im selben Moment wurde die Tür geöffnet und eine Frau trat ein. Sie schien etwas älter zu sein. Ihr Gesicht hatte schon einige Falten, die aber bei der Masse an Schminke, die sie aufgetragen hatte, kaum auffielen. Das Kleid sah wie eines von denen aus, das die adligen Besucher in Burg Fedha oft getragen hatten. Sie musste reich sein. Bei Valas Anblick breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

»Du bist wach!« Sie wandte sich an den Mann. »Wie geht es ihr?«

»Sie kann wieder klar denken«, antwortete er. »Sie möchte das Grab ihres Freundes sehen.«

»Kommt nicht in Frage!«, brauste die Frau auf. »Solange sie sich nicht vollständig erholt hat, geht sie nirgendwo hin!«

»Wer von uns ist hier der Arzt, Kufariji?«, fragte der Mann, während er aufstand und einen Koffer aufnahm, der neben dem Tisch stand. »Ich sage, dass sie soweit wiederhergestellt ist. Bring sie zum Grab, damit sie mit dieser Sache abschließen kann.« Er wandte sich an Vala und deutete auf die Schlossole, die neben dem Buch lag. »Das gehört vermutlich dir. Ich muss mich jetzt leider verabschieden. Ich habe noch andere Patienten.«

»Mtumishi! Begleite den Doktor doch bitte hinaus! Danke!«, rief die Kufariji in den Flur und ließ den Mann mit dem Koffer vorbei, bevor sie auf Vala zuging und sich zu ihr aufs Sofa setzte. Sie breitete die Arme aus und drückte sie ganz fest. »Mein armes, armes, kleines Mädchen. Du hast sowas nicht verdient.«

»Ich möchte sein Grab sehen«, sagte Vala, als die Frau sie zurückweichen ließ. »Jetzt.«

Kufariji seufzte. »Wie du willst.«

Sie stand auf und half Vala auf die Beine. Ihr fiel auf, dass sie nicht mehr die blutbesudelte Hose trug, sondern eine andere. Der Stoff schwang elegant um ihre Beine herum. Auch das Hemd war ein anderes. Beides sah sehr teuer aus.

»Von meinen eigenen Kindern«, erklärte Kufariji. »Als sie noch klein waren. So wie du. Ich dachte, dass die Sachen dir vielleicht gefallen.«

»Danke.« Das Wort schmeckte wie Asche in ihrem Mund. Jedes Mal, wenn ich mich bedankt habe, ist anschließend etwas Schlimmes passiert. Sie schluckte die Tränen runter und folgte der Frau auf den Flur und dann nach draußen. Die Schlossole steckte sie ein. Vala hatte nicht vor, lange zu bleiben. Das grässliche Gesicht ihres Onkels hatte sie immer noch klar vor Augen. Er ist an allem Schuld.

Shamals Grab war nur eines von vielen. Alle zwei Schritte lag ein rechteckiger Stein am Boden, auf dem der Name und das Geburts- und Sterbedatum eingemeißelt waren. Auf seinem Grabstein stand nur ein Datum. Vala kniete sich nieder und fuhr mit den Fingern durch den rötlichen Sand bis es weh tat. Erst, als die Sonne schon den Horizont berührte, stand sie auf und ging zu Kufariji zurück, die sie hergebracht und dann einige Schritte weiter auf sie gewartet hatte. Ihre dunklen Augen sahen sie voller Sorge an.

»Ich werde heute noch gehen«, sagte Vala, bevor die Frau den Mund aufmachen konnte.

»Aber...« Es standen sehr viele Fragen in Kufarijis Gesicht geschrieben, doch sie war klug genug, um sie für sich zu behalten. Sie nickte. »Kommst du noch zurück in die Stadt? Du brauchst sicher Wasser.«

Wasser, dachte Vala. Und ein Pferd, mit dem ich nach Ngome reiten kann. Wortlos stampfte sie an der alten Frau vorbei, die ihr mit wehenden Kleidern hinterher eilte.      

»Trennen sich hier unsere Wege?«, fragte Kufariji, als sie vor dem Haus standen, in dem Serval Shamal getötet hatte. Die alte Frau schien traurig zu sein und zu hoffen, dass Vala ihre Meinung noch änderte. Doch Vala nickte nur grimmig und ließ sie stehen ohne sich zu verabschieden.

Mit dem, was Gishild ihr beigebracht hatte, war es ein Leichtes, sich einen vollen Wasserschlauch zu besorgen, den sie sich an den Gürtel hängte. Sie fragte sich, was das Bettlermädchen gerade machte. War sie in ihr Versteck zurückgekehrt? Dachte sie auch noch manchmal an Vala und überlegte, ob sie es geschafft hatte, Shamal zu befreien?

Nach einigem Suchen fand Vala auch einen Stall, in dem Pferde untergebracht waren. Alles schöne Tiere, aber die meisten zu groß für sie und zudem noch ohne Sattel und Zaumzeug. Sie brauchte eines, das sich nicht an einer unerfahrenen Reiterin stören würde. Die Wut brodelte in ihr, als sie einen Hengst entdeckte, der fast genauso wie Doa aussah, das Pferd, das Miro ihr geschenkt hatte, damit sie außerhalb der Burg umgebracht werden konnte. Kurzerhand wählte sie einen Hengst aus, der sehr edel aussah und schon gesattelt und aufgezäumt war. Sein Fell schimmerte golden und er hatte schlanke, aber kraftvolle Beine. Der Name ›Dhoruba‹ stand außen an der Tür seiner Stallbox, vor der er offenbar auf seinen Herrn wartete.

»Dhoruba«, flüsterte Vala, woraufhin das Tier aufmerksam die Ohren aufstellte und sie mit großen, klugen Augen ansah. »Wie schnell bist du?« Wie als Antwort stampfte der Hengst mit den Hufen auf und sprang leicht in die Höhe. »Das ist schön.«

Sie löste den Knoten, der Dhoruba an Ort und Stelle hielt und holte sich den Schemel näher heran, mit dessen Hilfe sie aufsteigen konnte. Gerade hatte sie sich aufgeschwungen, als hinter ihr plötzlich laute Stimmen ertönten. »Mädchen! Was machst du da? Komm da sofort runter! Mit ihm sollte man nicht spielen!«

Vala ignorierte die Männer, die auf sie zu liefen und stieß dem Pferd die Fersen in die Seiten wie sie es oft bei Finis beobachtet hatte, wenn sie versuchte, das berüchtigte Pony zu bändigen. Der Hengst wieherte laut auf und machte einen Satz nach vorne. Dann stürmte er los. Vala hatte alle Mühe, sich festzuhalten, aber irgendwie gelang es ihr, Dhoruba aus Mpaka heraus zu lenken. Die Wachmänner am Tor hatten keine Chance, sie aufzuhalten. Im blutroten Schein der untergehenden Sonne galoppierte sie in Richtung Südosten. In Richtung Ngome. In Richtung König Miro. Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich.

Du wirst für das bezahlen, was wegen dir passiert ist, Onkel!

Pazifik - VerfolgtWhere stories live. Discover now