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Als er sie am nächsten Tag wiedersah, war er sich zunächst noch nicht einmal sicher, ob sie wirklich die Frau von der Brücke war. Irgendwas kam ihm an ihr bekannt vor. Nur irgendwie hatte er zugleich das Gefühl, dass sie ihm auf der Brücke auch schon bekannt vorgekommen war. An diesem Abend jedenfalls sah er die Frau auf einer Bank im Park vor dem Hotel sitzen, schon als er mit seinem Benz die Einfahrt hinaufkam. Er parkte und schlenderte dann lässig nicht direkt zum Hoteleingang, sondern eben durch die Anlage. Er machte sich nichts vor: Es war ihm völlig klar, dass er das aus Neugierde machte. Er wollte wissen, ob sie es war. Diesmal saß sie in der Abendsonne, aber so, dass nichts blendete, wenn er sie ansah. Sie trug ein Kleid, keine Shorts und ihre Füße steckten nicht in Wanderstiefeln sondern waren barfuß. Neben der Bank standen allerdings ein paar einfache Sandalen. Erst als sie sich zur Seite wandte, um in ihre Handtasche zu greifen, und Felix so ihr Profil sah, war er sich sicher: Das war die Frau.

„Hi", sagte er, als er nahe genug bei der Bank war, und als sie zu ihm aufschaute, ergänzte er: „Kennen wir uns?" Er hatte schon weitaus plumpere Anmachsprüche verwendet. Als Teenager in Berlin hatte er sich dabei wirklich nicht viel Mühe gegeben. Er hatte Körbe kassiert. Aber erfolgreich gewesen war er auch. Sehr erfolgreich sogar. Aber dass er hier und heute diesen stereotypen Spruch brachte, tat er nicht in der Absicht, die Frau auf der Bank anzumachen. Nein, er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass es stimmte: Dass er sie kannte. Und das wollte er klären. Bestenfalls stimmte es und sie kannten sich – dann hatten sie direkt etwas, worüber sie reden konnten. Schlimmstenfalls stimmte es nicht und sie kannten sich nicht – dann hatte er eben aus ihrer Sicht einen absolut ausgelutschten Anmachspruch versucht. So what?

„Hi", sagte sie und es sah so aus, als wollte sie sich selbst daran hindern, allzu sehr zu lächeln. Da war ein Hauch von einem Lächeln, ja, aber offenbar zog sie von innen ihre Unterlippe ein wenig mit den Zähnen zurück. Auf seine Frage ging sie jedenfalls nicht ein. Felix nahm die erwiderte Begrüßung dennoch als aufmunternde und keineswegs abweisende Geste. Er lächelte und ließ sich ein wenig Zeit mit den nächsten Worten. Einerseits, weil er nicht sofort wusste, was nun der sinnvolle nächste Schritt war, andererseits, weil er die Gelegenheit nutzen wollte, sie kurz etwas eingehender zu betrachten. Die Haare, die wieder in einem Pferdeschwanz zurückgenommen waren, waren lang, dunkelblond und leicht gewellt. Die Frau hatte blaue Augen, die zur Farbe ihres Kleides passten, und Sommersprossen auf der sehr zierlich wirkenden Nase. Ihre Augenbrauen waren schmaler und dünner als es gerade Mode war und soweit Felix es beurteilen konnte, trug sie kein Make-up. Aber manche Frauen waren ja sehr geschickt darin, sich dezent zu schminken.

„Wir haben uns schon mal gesehen", startete Felix einen zweiten Versuch.

Die Frau hob eine Hand über die Augen. Offenbar war heute sie diejenige, die geblendet wurde. „Kann durchaus sein", sagte sie. „Angeblich sieht man sich im Leben ja immer zweimal."

„Am Bach. Ich hab da geangelt", erklärte Felix nun, auch wenn er lieber gewartet hätte, bis sie selbst drauf kam, oder bis sie ihm erklärte, woher sie sich vielleicht wirklich kannten.

„Ah", sagte sie nur, fast ein wenig enttäuscht offenbar, und ließ die Hand wieder sinken. „Ja, kann sein. Das ist hier ja auch nur ein Dorf. Spätestens nach einer Woche Urlaub hat man wohl jeden hier einmal gesehen."

Felix gefiel es nicht, welche Richtung das Gespräch nahm. Es schien in Belanglosigkeit enden zu wollen. „Vielleicht haben wir uns auch vorher schon mal gesehen." Als sie darauf nicht reagiert, fügte er hinzu: „Ich bin Felix."

„Ja, ich weiß." Ein amüsiertes Grinsen auf ihren Lippen. Ein eher kleiner Mund, fiel Felix dabei auf. Aber volle Lippen. Und wenn sie so breit grinste wie jetzt, taten sich zwei Grübchen in ihren Wangen auf.

„Aha", sagte er. „Du weißt, wer ich bin." Fast war er ein wenig enttäuscht. Felix Lobrecht. Ja, er musste damit rechnen, dass man ihn kannte. Gerade Menschen in seinem Alter.

„Ich erinnere mich dunkel", sagte sie nun. Wieder ein Grinsen. „Aber du offenbar nicht, oder?"

Jetzt war er eine Spur irritiert. Er überlegte. Vielleicht kannte sie ihn gar nicht als Comedian, nicht als Podcaster. Vielleicht kannte sie ihn von ganz woanders her. Das würde dieses vage Gefühl erklären, dass er sie auch kannte. Vielleicht war es länger her, dass sie sich begegnet waren. Vor seiner erfolgreichen Zeit, bevor er berühmt wurde. Berühmt. Naja, das war wohl Ansichtssache.

„Nein, ich komm nicht drauf", gab er zu. „Hilfst du mir weiter? Woher kennen wir uns?"

Sie ließ den Kopf nach rechts sinken, schaute ihn so abschätzend an. „Du kommst schon noch drauf", sagte sie, ehe sie ihre Handtasche nahm, sich den Gurt über die linke Schulter legte und aufstand.

„Sagst du mir zumindest, wie du heißt?", fragte er. Als sie neben ihm stand, überkam ihn erneut diese Ahnung, dieses Vertraute. Sie war so groß wie er.

„Also ich hab dich sofort erkannt", erklärte sie lächelnd, während sie in ihre Sandalen schlüpfte.

„Ja, aber ich bin ja auch...", begann er, verstummte aber, als ihm bewusst wurde, was er hatte sagen wollen.

„Selbstbewusst mit einem Touch arrogant warst du damals auch schon", sagte sie. Es klang nicht amüsiert, nicht überheblich. Sie lächelte auch nicht. Wenn Felix hätte raten müssen, hätte er beinahe gesagt, sie wirkte ein wenig verletzt. Es traf ihn viel mehr, als es ihn hätte treffen dürfen. Sie war doch eine völlig Fremde für ihn. Nein, nicht völlig fremd. Oder doch. Sie konnte nicht so wichtig gewesen sein, wenn er sich jetzt noch nicht mal an sie erinnern konnte.

„Kommst du aus Berlin?", fragte er. Bisher war ihm kein Dialekt bei ihr aufgefallen.

Die Frau zuckte mit den Schultern und sah ihn an. „Ich bin öfter in Berlin, ja."

„Mm." Er nickte. Als ob das irgendwie helfen würde. Die Hälfte der Leute, die er besser kannte, war aus Berlin. Mindestens. Er lebte seit über dreißig Jahren in Berlin. Fast so lange, wie er denken konnte. Er hatte so viele Menschen kennengelernt in der Zeit. So viele Frauen.

Genervt schnalzte er mit der Zunge. „Digga! Ich komm nicht drauf. Fuck! Wer bist du?"

Die Frau biss sich grinsend auf die Unterlippe. „Okay. Wie wäre es mit Alice?" Sie sprach den Namen französisch aus.

„Alice", murmelte Felix und zermarterte sich das Gehirn. „Alice", wiederholte er.

„Ich will jetzt ins Dorf gehen, Abendessen."

„Äh... ja." Er nickte, schaute sie aber weiter an. Er musste einfach drauf kommen, woher er sie kannte.

„Kommst du mit?", fragte sie.

Überrascht hob er die Augenbrauen. Damit hätte er jetzt wirklich nicht gerechnet. Aber es kam ihm keineswegs ungelegen. „Ja", sagte er. „Ich komme gerne mit."

*

Who the Fuck is Alice?Where stories live. Discover now