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Am nächsten Tag startete Felix einen weiteren Angelversuch. Diesmal war er weiter abseits von allen Wegen. Keine Brücke in der Nähe, auf der irgendwelche Frauen erscheinen konnten. Er fing zwei Döbel und eine zu klein geratene Regenbogenforelle, die er allesamt wieder freiließ.

Am Abend ging er in dasselbe Restaurant wie am Tag zuvor und danach stromerte er noch eine ganze Weile durch das Dorf. Erst als er wieder zum Hotel kam und zu der Bank sah, auf der Alice gesessen hatte, wurde ihm klar, dass er wohl irgendwie unbewusst die ganze Zeit nach ihr Ausschau gehalten hatte, gehofft hatte, sie irgendwo zufällig zu treffen. Zufällig, klar. Sie hatten noch nicht mal Handynummern getauscht. Warum auch? Wenn es darum gegangen war, dass sie beide sich offenbar anziehend gefunden hatten, war mit dem Sex gestern ja alles erledigt. Vermutlich war es das auch. Er jedenfalls hatte gut geschlafen in der letzten Nacht. Aber da war noch diese andere Sache. Alice. Er wusste nicht, wer sie war. Wenn das ein Trick von ihr war, irgendeine Nummer, die sie abzog, um sich interessant zu machen, war sie damit ziemlich erfolgreich gewesen bei ihm, das musste er anerkennen. Aber er hatte ja selbst das Gefühl gehabt, sie zu kennen. Alice. Alice. Er versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern. Es klappte ganz gut, aber die Details waren verschwommen. Er hätte sie wohl nicht zeichnen können.

Er ging aufs Zimmer, schaltete den Fernseher an, scrollte durch das Netflix-Angebot und war unzufrieden. Schließlich holte er sein iPhone raus und schrieb seinem Bruder: „Kennst du eine Alice?"

Felix legte das Handy wieder weg. Er erwartete nicht, dass Julian direkt reagierte, wechselte auf YouTube und nahm dann doch wieder sein Handy. Sein Bruder hatte wohl doch Zeit, er hatte geantwortet: „Ich kenn eine Alice in Frankreich. Auf dem Hof da. Und eine in Friedrichshain. Wieso?"

„Muss ne Alice sein, die ich auch kenne. Friedrichshain?", schrieb Felix.

„Die kenn ich über Dennis, so ne Kleine, Dickere. Kommt aus USA oder England, weiß nicht mehr genau. Kann sein, dass du die kennst, oder?"

„Nope, sagt mir gar nichts. Aber danke für nichts." Er schickte noch einen halbierten, salutierenden Emoji hinterher, bei dem aus irgendwelchen Gründen eine Hälfte fehlte. Das hatte nichts gebracht. Aber es gab genügend andere Möglichkeiten, Phasen in seinem Leben, in denen Julian und er größtenteils getrennte Wege gegangen waren, verschiedene Freundeskreise, verschiedene Wohnorte. Und vielleicht war das mit Alice ja schon früher nur eine kurze Begegnung gewesen. Wenn er mit ihr zur Schule gegangen war, würde er sich doch wohl an sie erinnern. Mit diesen Menschen hatte er schließlich meistens zumindest ein ganzes Schuljahr verbracht. Er fläzte sich auf das Sofa und starrte Richtung TV, ohne wirklich hinzusehen. Sie war etwa so alt wie er selbst, vielleicht sein Jahrgang. Also war es durchaus möglich, dass sie zusammen in einer Klasse gewesen waren. Auf der Chaotenschule konnte er sie sich einfach nicht vorstellen. Trotzdem versuchte er, sich an seiner Mitschülerinnen zu erinnern. Wie viele waren sie in der Klasse gewesen? Wie viele Mädchen? Mit manchen hatte er nie auch nur ein Wort gewechselt. Manche waren gekommen und gegangen, aus welchen Gründen auch immer, auch während des Schuljahres. Felix sah sich in der Klasse sitzen und versuchte sich an die Bänke und Tische um sich herum zu erinnern. Manche Namen und Gesichter kamen ihm sofort. Aber es war erschreckend, dass er da den einen oder anderen blinden Fleck zu haben schien. Er kam auf fünfzehn, fünfzehn Gesichter mit Namen. Da waren mehr gewesen. Fuck! Er wurde alt. Oder war das normal, dass man Menschen vergaß?

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„Ey! Ey! Hallo! Du hast was verloren!" Das Mädchen drehte sich um, ein blasses Gesicht mit dunkelbraunen Haaren. Es wirkte eine Spur verängstigt. Großer Fehler. Hier durfte man keine Angst zeigen, sonst war man gefickt. Aber als das Mädchen Felix sah, wirkte es mit einem Mal nicht mehr ganz so verängstigt, eher schon erleichtert. Was denn? Sah er so harmlos aus? Offensichtlich. Er war blond, klein, schmächtig. Er hatte zwar im Sommer angefangen im Keller eines Kumpels zu trainieren, weil er unbedingt einen Sixpack haben wollte, aber davon sah man gerade sicher noch nichts, vor allem nicht unter den dicken Winterklamotten.

„Oh. Danke!" Das Mädchen lächelte ihn schüchtern an, als er ihr den Handschuh hinhielt, der ihr aus der Manteltasche gefallen war. Dann drehte sie sich um und verschwand. Sie war zu spät dran, genau wie er. Und vermutlich gehörte sie zu den Mädels, die noch einen Scheiß auf die Schule und die Regeln, die hier galten, gaben.

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Felix stand auf, um sich an der Mini-Bar ein Glas zu holen. Das Leitungswasser schmeckte hier zehnmal besser als in Berlin, also füllte er sich das Glas im Bad, trank es im Stehen, ehe er sich wieder hinsetzte. Das Mädchen war in eine Parallelklasse gegangen und hatte ihn nach dieser Begegnung im Flur noch ab und an auf dem Schulhof von weitem mit einem winzigen Lächeln angeschaut oder im Treppenhaus beinahe lautlos gegrüßt. Onur und Sami hatten ihn irgendwann damit aufgezogen und behauptet, sie wäre in ihn verknallt. Und er in sie. Das war Blödsinn gewesen, aber alleine die falsche Unterstellung war ihm peinlich und unangenehm gewesen. Von da an hatte er sie bewusst ignoriert, hatte vor sich hingestarrt, wenn er sie irgendwo entdeckt hatte. Er hatte in dem Alter einfach nicht damit umgehen können. Klar hatte er sich schon für Frauen interessiert, den ersten Sex hatte er da sogar schon hinter sich gebracht gehabt. Wobei Sex für das, was da in diesem Park passiert war, wohl eher ein Euphemismus war. Aber dieses ganze Verliebtsein mit Gefühlen und all so was, das hatte ihn überfordert. Auch wenn sie ihm irgendwie gefallen hatte. Er hatte ihren Namen dennoch irgendwann herausgefunden, das wusste er genau. Aber er fiel ihm nicht direkt ein. Irgendwann hatte er Nasrin gefragt, weil er gesehen hatte, dass die mit dem fremden Mädchen geredet hatte. Daria! Das war ihr Name gewesen. Er erinnerte sich noch immer nicht an ihr Gesicht. Aber er hatte ja auch nicht viel mit ihr zu tun gehabt, im Grunde.

Felix rieb sich über die Augen. Wahnsinn. Er war vierunddreißig und konnte sich nicht mehr an alle Menschen erinnern, die ihm begegnet waren, so viel stand schon mal fest. Vermutlich war das normal. Er lernte jede Woche neue Menschen kennen, vor allem, wenn er auf Tour war. Da mussten auch Daten aus seinem Gehirn wieder gelöscht werden.

Er stand auf, ging auf den winzigen Balkon um eine Zigarette zu rauchen. Es war noch hell draußen. Er sah die Berge, die hier so nah waren, dass ihn jedes Mal so ein kleines Glücksgefühl überwältigte, wenn er sich darüber bewusst wurde. Er liebte die Berge und konnte sich nicht an ihnen satt sehen. Nein. Das war Blödsinn. Auf Dauer hätte er sich ganz bestimmt an ihnen satt gesehen oder sie einfach irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Es war eben dieses Andere, Spezielle, was ihn hier so eine innere Ruhe finden ließ. Aber wenn er länger als zwei Wochen hier verbringen würde, würde er sich vermutlich beginnen zu langweilen. Und er würde Berlin vermissen.

Er schaute Richtung Dorf, scannte den Park und den Platz vor dem Hotel. Er hatte Adleraugen. Fuck, er hielt schon wieder Ausschau nach ihr. Oder jedenfalls hätte er sich gefreut, wenn er sie gesehen hätte. Vielleicht konnten sie das von gestern Abend noch mal wiederholen. Er ging davon aus, dass sie im selben Hotel wohnte, auch wenn sie darüber nicht geredet hatten. Und er ging davon aus, dass sie noch hier war. Aber das brachte jetzt alles nichts. Und so wichtig war das auch alles nicht. Wenn es, wenn sie ihm wichtig gewesen wäre, hätte er gestern nach ihrer Nummer gefragt. Er war da nie schüchtern gewesen, wenn es um so was ging. Es war egal. Entweder er sah sie wieder oder eben nicht. Entweder er kam noch drauf, woher er sie kannte oder eben nicht.

Da er noch ziemlich viel Energie hatte und ihn das Streaming-Angebot nicht überzeugte, beschloss er, noch eine Runde schwimmen zu gehen. Der Hotel-Pool und überhaupt der ganze Wellness- und Fitness-Bereich konnten sich sehen lassen. Wenn die Sauna noch in Betrieb war, würde er die auch nutzen. Das war doch ein guter Plan. Er hatte nur noch morgen den vollen Tag, dann würde er schon wieder abreisen. Und er war einigermaßen zufrieden mit sich, wie gut es ihm in diesem Kurzurlaub gelungen war, runterzufahren und sich zu entspannen.

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Who the Fuck is Alice?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt