10.

166 8 0
                                    

10.

Felix stand vor dem geöffneten Kühlschrank. Ein trauriger Anblick. Er war nie gut darin gewesen, Vorräte anzulegen. Da waren nur ein paar ewig haltbare Sachen wie Senf und ein angefangenes Glas Saure Gurken. Und ein Joghurt. Er nahm die Packung und stellte fest, dass sie offen war. Als er den Deckel hob, überkam ihn Ekel. „Bah!" Es schüttelte ihn und er warf den Becher in den Müll. Den Joghurt hatte er wohl vorletzte Woche vergessen. Widerlich. Er schloss den Kühlschrank, öffnete eine Schublade. Haferflocken waren noch da, Reis, Kapern. So war es jedes Mal, auch wenn er von einer Tour wiederkam. Vermutlich war noch was im Tiefkühlfach, was er hätte auftauen können. Kürbissuppe von Silvester oder so. Aber darauf hatte er jetzt keinen Bock und auch keine Geduld dafür. Döner wäre schon geil jetzt. Oder irgendwas ohne Fleisch halt. „Ne, du fährst jetzt zu Edeka", machte er sich selbst klar. Selbstgespräche waren manchmal hilfreich. Wenn er es laut aussprach, neigte er weniger dazu, sich selbst zu betrügen und dann doch den Weg zum Kotti einzuschlagen.

Es war spät, als er mit dem Kochen und Essen fertig war. Aber er fühlte sich besser, als wenn er doch dem Drang nach Fast Food nachgegeben hätte. Zumindest bildete er sich das ein. Er überlegte, noch rauszugehen, aber die lange Fahrt hatte ihn wohl müde gemacht. Er rauchte auf der Dachterrasse und nahm seine Nachbarschaft wieder in Besitz, indem er schaute, was so los war. Der Typ von schräg gegenüber hatte noch immer nicht gecheckt, dass das Milchglas seines Badezimmerfensters durchsichtiger war als gedacht. Und in der Wohnung in der Etage darunter waren wohl neue Leute eingezogen. Jedenfalls hing da jetzt was am Fenster. Irgendein Dekokram. Bevor er in Urlaub gefahren war, waren da Möbelpacker gewesen, das hatte er noch mitbekommen. Der Grünstreifen, den er von hier aus sehen konnte, war zugemüllt wie immer. Das Schild an der Bushaltstellte hatte sich ein wenig nach vorne geneigt. Vermutlich hatte irgendwer dagegen getreten. Felix schüttelte den Kopf. Kaum war er mal ein paar Tage nicht da, schon gab es Randale. Er grinste. Nein, er war hier nicht der Blockwart. Aber manchmal erwischte er sich dabei, dass ihn solche Dinge wie Müll, Vandalismus oder nächtliche Schlägereien auf der Straße aufregten. Früher war ihm das scheiß egal gewesen. Oder er war selbst dafür verantwortlich gewesen.

_

„Alter, laber doch nicht!"

„Doch, hat er! Hat ihm einfach Bombe gegeben, ja?" Felix imitierte, was er gesehen hatte und gab der Luft vor sich einen heftigen Faustschlag. „Deniz ist sofort umgefallen. Wie'n Stein, ja? Einfach so BOUM!", er knallte mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel, „auf den Boden, ja? Eyy, ich dachte, der ist tot, ja?"

Sami schüttelte den Kopf. „Krass. Und ich war nicht dabei, ja? Ey, mein verfickter Bruder, nur weil der so das Maul aufreißen muss, ja? Hausarrest am Arsch, ja? Können die mit mir nicht mehr machen!"

Felix nickte zustimmend, auch wenn er vor Samis Eltern, vor allem seiner Mutter, an Samis Stelle Respekt gehabt hätte. Oder Angst. Oder beides. Die Frau machte keine leeren Drohungen.

„Ja, Digga, ich muss los." Sami stand von der Bank auf. „Sehen uns morgen, ja? Und Deniz auch dann. Oder war der Krankenhaus?"

„Ne, ham Eis geholt. Hat son fetten Bluterguss jetze." Felix deutete auf seine eigene Wange, um zu zeigen, wo es Deniz erwischt hatte.

Sami nickte. „Wird schon wieder. Bis morgen, ja?"

Felix stand auf, um seinen Kumpel zu verabschieden und ließ sich danach wieder auf die Bank fallen. Er wollte noch nicht nach Hause. Aber hier alleine rumzugammeln war auch langweilig. Drei Mädchen näherten sich auf dem Weg. Er schaute nicht zu genau hin. Wenn Sem noch hier gewesen wäre, hätte er das wohl gemacht. Aber so nicht. Die drei lachten. Irgendwas kam ihm bekannt vor, also riskierte er doch mal einen Blick. Es dauerte einen Moment, aber dann erkannte er sie. Sie. Hier im Park, ausgerechnet. Sie sah besser aus als damals. Aber damals war es ihm egal gewesen. Alles war ihm egal gewesen. Er war absolut überrascht gewesen. Und überfordert von der Situation. Das war er jetzt gerade auch. Er wollte sich am liebsten verstecken. Aber um abzuhauen, war es zu spät. Er lehnte sich zurück, schaute in die andere Richtung, lässig, wie er hoffte. Aber dann war da dieses Lachen, richtig albern jetzt. Er musste einfach hinschauen. Er hatte gedacht, sie hätte ihn erkannt und würde sich jetzt über ihn auslassen, mit ihren Freundinnen lästern. Aber so war es nicht. Sie sahen ihn gar nicht. Schon waren sie an der Bank und an Felix vorbei. Sie hatte ihn nicht gesehen, ihn nicht wiedererkannt. Felix war heiß geworden. Er rieb sich über die Wangen. Knallrot waren die, um das zu wissen, brauchte er keinen Spiegel.

_

Felix war die ganze Sache heute noch peinlich. Sache. Sein erstes Mal. Im Park. Zu jung, zu besoffen, zu unfähig. Sie hatte ihn angemacht, war älter gewesen als er. Sein erstes Mal. Keine Story für die Bravo. Es war erbärmlich, entwürdigend, falsch gewesen. Und ihre Entscheidung. Sie hatte sich ihn ausgesucht, warum auch immer. Er war so klein, so jung, so schmächtig gewesen. Und dumm, richtig dumm. Er hatte gar nicht gewusst, wie ihm geschah. Das Treffen mit den Jungs im Park, davor zwei Flaschen Wodka Blutorange im Supermarkt geklaut. Das billige Zeug. Und sie hatten gekifft. Wie immer eigentlich. Er wusste nicht mehr, wer die Mädels angesprochen hatte. Oder hatte irgendwer die gekannt? Keine Ahnung. Die hatten auch von dem Wodka getrunken jedenfalls. Hatten gekichert die ganze Zeit. Und sie, die Jungs, hatten sich wie die Größten gefühlt. Und dann war es halt passiert.

Bis auf das eine Mal, vielleicht zwei Jahre später, im selben Park, hatte Felix das Mädchen nie mehr wiedergesehen. Er hatte ihren Namen vergessen, weil er ihn hatte vergessen wollen. Er wollte nicht drüber nachdenken, sonst würde er ihm vielleicht wieder einfallen. Nicht Alice, so viel stand fest.

Er nahm sein iPhone raus. Seine Mails ignorierte er noch. Die waren meist geschäftlich. Und der Abend heute gehörte zumindest gefühlt noch zu seinem Urlaub, selbst wenn die Aussicht hier keine Berge zu bieten hatte. Es lag ohnehin nicht mehr viel an diesen Sommer. Noch ein paar Folgen Hack, was er aber kaum als Arbeit bezeichnen würde. Die Tickets für die Road-to-Benz-World-Tour – die relativ kleinen Shows, die er in Vorbereitung auf das große Tour-Finale durchziehen wollte, sollten demnächst online gehen. Und die Live-Folgen Gemischtes Hack mussten noch final geplant werden. Und dann wollte er endlich mal einen Gang zurückschalten, zur Ruhe kommen. Dass das ihm so schwerfiel, war ihm klar, schon lange. Erst seit Kurzem wusste er auch warum, oder konnte es sich zumindest teilweise besser erklären. ADHS. Die Diagnose erklärte vielleicht einiges, machte sein Leben aber auch nicht unbedingt leichter. Dass er mal ausspannen musste, war so oder so klar. Urlaub zu machen war ihm immer schwergefallen. Ganz abschalten, einfach nichts tun, war fast unmöglich. Er würde nie einfach nur am Strand liegen. Er musste was machen, unter Leuten sein. Aber er gab sich Mühe, daran was zu ändern, mit seinen eigenen Gedanken alleine sein zu können. In den letzten Tagen war ihm das ganz gut gelungen. Angeln war immer gut gewesen. Eigentlich kein Hobby, das man einem mit ADHS zugetraut hätte. Aber er hatte das immer genossen. Die Ruhe.

Er öffnete WhatsApp. Julian hatte ihm geschrieben: „Morgen, 13 Uhr, bei dir?"

Felix reagierte mit einem nach oben gereckten Daumen, schrieb dann noch seinem Vater, der gefragt hatte, ob er schon zurück sei.

Matze vermutete, dass die Zeichnung von einem Fan kam. „Da will dich wer auffressen, ist doch klar. Einmal Lobrecht mit allem zum Mitnehmen, bitte."

Felix lächelte nur müde. Gut, dass er der Comedian im Freundeskreis war. Das schrieb er Matze auch. Der konnte so was ab.

Er suchte in der Kontaktliste Alice heraus und schrieb: „Hallo? Hab deine Nummer zugesteckt bekommen. Wer bist du? Da stand leider kein Name dabei."

Auch nicht viel origineller als die Rateideen seiner Freunde bisher. Aber er wollte es nicht länger hinauszögern, die Nummer zu nutzen. Er dachte an die Zeichnung. Wenn er der Mann war – und das war eindeutig, mit dem Nasenpiercing und der Uhr – wer oder was war dann die Gabel? Moment! Hieß Alice vielleicht so mit Nachnamen? Gabel oder Gabler oder so ähnlich? Das gab es doch, oder? Aber er kannte niemanden, der so hieß. Soweit er sich erinnern konnte. Und was sollte die Zeichnung dann bedeuten? Alice plus Felix? Nein, das war albern. Wobei – richtig albern wäre es gewesen, wenn es noch ein Gleichheitszeichen mit einem Herz dahinter gegeben hätte. Nein, das wäre nicht nur albern, sondern beängstigend gewesen. Felix musste an Elvis erste Vermutung denken. Psychofans, die ihre Idole stalkten, gab es ja leider wirklich. Bisher hatte Felix da weitestgehend Glück gehabt, wenn mal man von ein paar sehr speziellen DMs oder Päckchen, die über Beccis Agentur bei ihm gelandet waren, absah. Wünsche, dass er jemanden anpinkelte oder seine getragenen Socken verschickte – gegen eine absurde Summe Geld. Er hatte darauf natürlich nicht reagiert. Er wusste nie, ob ihm die Leute leid tun sollten oder er sich über sie lustig machen sollte. Und dann war da dieses Päckchen zu Weihnachten oder seinem Geburtstag vor zwei Jahren geschickt worden, wo jemand – er vermutet stark, dass es ein weiblicher Fan gewesen war - eine Fotocollage auf DinA2-Format gebastelt hatte. Alles Fotos von ihm. Und etliche davon hatte er vorher nicht gekannt. Die waren heimlich gemacht worden, meistens nach Shows offenbar oder wenn er bei Open Mics gewesen war. Da war jemand wirklich oft in seiner Nähe gewesen. Das hatte er schon etwas unheimlich gefunden. Aber er hatte auch da nicht reagiert und seitdem nichts mehr davon gehört oder gesehen.

*

Who the Fuck is Alice?Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin