Kapitel 43

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Wincent
„Aber du musst mich doch nicht direkt so von dir stoßen. So wird das nicht funktionieren." „Du hast doch keine Ahnung, wie sich das anfühlt." „Es sind Haare." „Ja, noch mehr, was mir der Krebs nimmt. Mal wieder." „Das ist trotzdem kein Grund." „Für dich vielleicht, für mich schon. Du hast keinen Krebs, du weißt nicht, wie sich das alles anfühlt. Ich habe Schmerzen, ich hab gefühlt die halbe Nacht über dem Klo verbracht, obwohl ich kaum etwas essen kann, meine Haare fallen aus und selbst wenn ich überlebe, mein Leben ist ruiniert. Das war es schon nach meiner ersten Erkrankung." „Nein, das lasse ich nicht zu. Dein Leben ist nicht ruiniert, verstanden? Du wirst das überleben und danach werden wir um die Welt reisen. Das hab ich dir versprochen, als wir noch zur Schule gegangen sind. Ich hab dir damals versprochen, dass wir gemeinsam reisen werden. Ich wollte das schon damals unbedingt machen. Dir diesen Traum erfüllen. Ich hab Überstunden bei der Arbeit gemacht und gespart, um mit dir nach unserem Abi wegfliegen zu können. Daraus ist damals vielleicht nichts geworden, aber jetzt!" „Komm bitte nicht wieder damit an, dass ich dich damals verlassen habe. Das ist eine komplett andere Situation gewesen. Ich habe mit dir Schluss gemacht, weil du weggegangen bist. Im Gegensatz zu dir, hab ich aber nicht wenig später die Nächste an der Angel gehabt." „Und komm du nicht damit an! Das hier hat nichts mit unserer Vergangenheit zutun. Ich habe nur gemeint, dass ich damals schon bereit gewesen bin, dir deine Träume zu erfüllen. Wenn du wieder gesund bist schwöre ich dir, dass wir das alles nachholen werden." Maya lacht leicht auf, es hört sich gequält an. „So, wie ich dich kenne, hast du bestimmt schonmal Leukämie gegoogelt, oder? Da bist du bestimmt auch schon darauf gestoßen, dass die Heilungschancen bei einem Rezidiv geringer sind." „Aber sie liegen nicht bei null. Außerdem hast du versprochen, dass du nicht aufgibst, dass du kämpfst." „Ja, trotzdem muss man das alles mal realistisch sehen." „Aber du musst doch nicht gleich schwarz malen." „Ich wusste, dass mir die Haare ausfallen werden. Beim letzten Mal war das ja auch so." „Streiten wir uns gerade ernsthaft über unsere gesamte Zukunft nur wegen ein paar Haaren?" „Nur ein paar Haare?" „Es sind nunmal einfach nur Haare, tut mir leid, aber es ist so. Es ist das Unwichtigste überhaupt." „Du checkst einfach überhaupt nichts." „Nein, gerade verstehe ich wirklich gar nichts." „Dann geh!" „Nein!" „Hey!" geht im nächsten Moment die Tür auf und dieser Konstantin kommt rein „Könntet ihr euren Streit bitte entweder gar nicht oder in deutlich leiser fortführen? Das hier ist immer noch ein Krankenhaus. Maya, ich weiß, dass es dir beschissen geht und Wincent, sorry, aber du kannst wirklich nicht nachempfinden, wie das gerade für sie ist. Das kann niemand. Trotzdem müsst ihr euch hier nicht anbrüllen... Komm mal bitte mit." Ich sehe nochmal zu Maya, aber sie schaut nur aus dem Fenster. Frustriert folge ich ihm.

Ich lehne mich an die Wand und schließe kurz die Augen. „Geh in zehn Minuten nochmal rein, dann sollte sie sich beruhigt haben." Skeptisch sehe ich ihn an und lasse mich an der Wand runter auf den Boden gleiten. Er lacht auf und setzt sich neben mich auf den Boden. „Ja, ich weiß, sieht gerade nicht so aus. Gib ihr nur ein bisschen Zeit, ziemlich schnell wird sie wieder deine Nähe suchen. Es ist Maya." „Ja und wie du schon sagtest, Maya ist extrem sturköpfig. Sie hat mich eben genau so angeschaut, wie damals, als sie mit mir Schluss gemacht hat... Sorry, Sie haben wahrscheinlich kein Interesse daran, sich meine unwichtigen Probleme anzuhören. Andere haben deutlich größere, ich laufe immerhin nicht Gefahr..." Ich breche ab. „Erstens, duze mich ruhig. Es fühlt sich sonst echt komisch an. Zweitens, ich kenne die halbe Geschichte schon. Drittens, ja, an diesen Problemen wirst du nicht sterben, dennoch sind sie nicht unwichtig." „Die halbe Geschichte?" „Grob, Ja... Wincent, ich weiß, dass sie dich liebt, daran hat sie auch keine Zweifel." „Woran dann? Dass ich sie nicht genug liebe? Das ist kompletter Schwachsinn." „Sag das mal jemandem, dem gerade zum zweiten Mal in so jungen Jahren der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Aber nein, daran hat sie auch keine Zweifel. Sie ist der Auffassung, dass ihr nichts Gutes im Leben passieren kann und es nur eine Frage der Zeit ist, bis eure Beziehung aufgrund ihrer Krankheit in die Brüche geht." „Und das hat sie dir alles einfach so erzählt. Warum mir nicht?"
„Oh Gott nein, natürlich hat sie mir das alles nicht so erzählt... Ich begleite Maya jetzt schon von Anfang an. Ich war hier, als sie zum ersten Mal stationär aufgenommen wurde, als sie entlassen wurde, als sie für krebsfrei erklärt wurde und und und... Ich habe sie so kennengelernt, wie sie jetzt gerade drauf ist." „Wow... ich hab sie kennengelernt, als sie noch ein Mensch war, für den das Glas immer halb voll war. Jetzt ist es immer halb leer." „Sowas verändert einen." „Trotzdem liebe ich sie noch immer über alles. Nicht den Menschen von damals, einfach sie." „Dann werdet ihr das zusammen durchstehen." „Wie, wenn sie mich schon jetzt ausschließt und von sich stößt? Es sind Haare, was denkt sie denn von mir?" „Es sind nicht die Haare, Wincent... Weißt du, welche Nebenwirkungen, eine Chemotherapie alles hat? Also neben Haarausfall, Übelkeit und Erbrechen?" „Ähm..." „Unter anderem Müdigkeit, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, aber auch die Einschränkung der Fruchtbarkeit. Damals, hat sie als aller erstes gefragt, ob sie Kinder bekommen kann, wenn sie das durchsteht. Sie hatte solche Angst, nie Kinder bekommen zu können."

Vielleicht im nächsten LebenWhere stories live. Discover now