Kapitel 5

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Das Wasser prasselt auf mich herab, während ich unter der Dusche in meinem Duschrollstuhl sitze und mir die Haare wasche. Der große blaue Fleck auf meiner rechten Hüfte beweist, dass ich die Ereignisse von gestern Abend und heute Nacht nicht geträumt habe. Alex hellblaue Augen, die sowohl verloren als auch suchend ausgesehen hatten, haben mich bis in meine Träume verfolgt.
Als ich duschen gegangen bin, schlief Emma noch, was mir ganz recht gewesen ist. So konnte sie mir mit Alex nicht auf die Nerven gehen. Sie hat in meinem Arbeitszimmer auf der ausziehbaren Couch geschlafen, weil es ziemlich spät geworden war und ich sie nicht noch durch die halbe Stadt nach Hause fahren wollte. Die ganze Autofahrt zurück hatte sie mich wegen des beinahe Kusses genervt und gemeint, ich hätte mich in Alex verguckt und was für ein schönes Paar wir abgeben. Ich hatte mich zu diesen Themen nicht geäußert, denn sie hätte ihre Meinung eh nicht geändert. Wenn sie erst mal von etwas überzeugt war, war es schier unmöglich, sie zum Umdenken zu bringen.
Alexander Black ist ein Star und ich bin nicht so naiv, um zu denken, dass er was von mir wollen könnte, und selbst wenn heißt das noch lange nicht, dass ich etwas von ihm will. Alex ist der erste Mann seit 10 Jahren, der mich hatte küssen wollen und von dem ich gern geküsst worden wäre. Jedenfalls vor ein paar Stunden noch. Was ist nur los mit mir? Mit Männern bin ich doch fertig.
Ich trockne mich mit einem großen Handtuch ab, bekomme den Rollstuhl zu packen und stelle ihn neben mich, um mich gefahrlos hinein hieven zu können. Zum Glück habe ich ein sehr geräumiges Badezimmer mit einer ebenerdigen und großen Dusche. Mit einem Handtuch auf dem Schoß fahre ich auf einen Hocker zu, auf dem meine Kleidung liegt.
Mein Blick fällt auf meine Beine. Meine Ober- und Unterschenkel sind mit vielen Narben übersät, einige sind groß, andere klein, manche stammen vom Unfall, andere von den darauffolgenden Operationen.
Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, der nur einen Bruchteil einer Sekunde gedauert hatte, hat mein Leben komplett verändert, aber nicht nur meins, sondern auch das meiner Familie. Meine damalige Welt hatte dieser eine Augenblick nicht nur ins Wanken gebracht, sondern zum Einsturz. Danach war nichts mehr so gewesen wie vorher, und es konnte nie wieder so werden wie früher. An einem Tag lief und hüpfte man noch durch die Gegend und am nächsten saß man im Rollstuhl. So etwas kann schneller passieren als man denkt.
Ich wende meinen Blick von meinen entstellten Beinen ab, schüttele kurz den Kopf, um diese trübsinnigen Gedanken loszuwerden und fange an, mich in aller Ruhe anzuziehen, denn ich habe Zeit, da ich heute nicht arbeiten muss. Ich ziehe eine Jogginghose, ein Langarmshirt und einfache Turnschuhe an. Die Schuhe brauche ich, um stehen und ein paar Schritte laufen zu können, denn ohne die Schuhe habe ich keinen richtigen Halt. So angezogen fahre ich zum Waschbecken. Ich putze mir die Zähne und kämme mir die Haare. Föhnen würde ich sie heute nicht, da ich vorhatte, Zuhause zu bleiben, kann ich sie einfach an der Luft trocknen lassen.
Aus dem Spiegel blicken mir müde graublaue Augen entgegen. Meine mittelblonden Haare, die mir über die Schultern fallen, umrahmen mein ovales Gesicht. Ich bin keine Schönheit, aber als hässlich würde ich mich jetzt auch nicht bezeichnen. Meine Nase ist für meinen Geschmack ein wenig zu breit und meine Oberlippe im Vergleich zu Unterlippe etwas zu schmal. Doch alles in allem bin ich recht ansehnlich. Mein Blick wandert nach unten und bleibt an meinem Dekolleté hängen.
Wo ist das Medaillon? Ich hatte es gestern angehabt, da bin ich mir absolut sicher. Abgenommen habe ich es nicht, denn daran würde ich mich erinnern. Ich nehme es fast nie ab, seit Großmutter es mir geschenkt hatte. Hoffentlich hatte ich es gestern beim Sturz nicht verloren. Geh nicht immer vom Schlimmsten aus, ermahne ich mich in Gedanken. Vielleicht war die Kette beim Duschen oder im Bett aufgegangen. Ich drehe mich um und fahre zur Dusche. Doch dort liegt nichts auf dem Boden und durch das Abflussgitter passt das Medaillon nicht. Beim Duschen kann ich es also nicht verloren haben.
Ich begebe mich in mein Schlafzimmer und höre im Wohnzimmer den Fernseher laufen, demnach ist Emma wach. Ich schaue sowohl im Bett als auch darunter nach, schüttele die Decke sowie die Kissen aus und hebe sogar die Matratze hoch, doch ich finde es nicht.
„Vicky, schau mal!", ruft Emma, als ich ins Wohnzimmer komme und hält mir ihr Handy vors Gesicht.
Auf dem Handy ist ein Bild von Alex und mir zu sehen. Obwohl er mich trägt, sieht man, wie klein ich bin. Mit meinen 1,56 m reiche ich den meisten Männern nur bis zur Brust. Er hat einen Anzug an, ich dagegen sehe auf dem Foto mit der schwarzen Kunstlederjacke und der einfachen blauen Jeans schäbig aus. Ich bin ungemein froh darüber, dass man mich auf dem Bild nicht erkennen kann.
Unter dem Foto steht: Ist diese junge Frau nur ein Fan oder kennen sich Alex und die Unbekannte? Alexander Black (28) und die Brünette wirken sehr vertraut miteinander. Hat der Dauersingle jetzt eine Freundin, oder ist das nur eine PR-Masche, um den Gerüchten entgegenzuwirken?
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Was meinen die damit, dass er Dauersingle ist? Welche Gerüchte könnte dieses Foto schon widerlegen? So wie er mich an sich drückt, sieht es so aus, als ob wir uns kennen, obwohl wir gestern zum ersten Mal miteinander gesprochen haben.
„Das interessiert mich gerade nicht. Hast du mein Medaillon gesehen?" Warum soll ich mich mit diesem Artikel befassen? Ich kann eh überhaupt nichts an dem ändern, was sie schreiben. Natürlich könnte ich mich an irgendeine Zeitung wenden, um die Wahrheit zu erzählen, aber dann würde ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehen und das wäre nicht in meinem Interesse.
„Nein. Wieso?" Emma sieht mich fragend an.
„Ich kann es nicht finden." In meiner Stimme schwingt Panik mit.
„Mach dir keine Sorgen, wir werden es schon finden. Wo hast du schon gesucht?"
„Ich habe mein Bett schon auf den Kopf gestellt und das Badezimmer auch."
„Dann siehst du jetzt im Wohnzimmer nach und ich im Arbeitszimmer", schlägt sie vor und geht, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ich stelle die Bremsen des Rollstuhls an, stehe langsam auf und gehe zur Couch. Als ich zwischen den Sofapolstern nur Krümel von Keksen und Chips sowie einen Stift finde, lasse ich mich zu Boden gleiten und schaue unter das Sofa. Außer einer dicken Staubschicht ist dort nichts. Ich krabbele durch den Raum und sehe unter jedem Gegenstand nach. Sogar den kleinen Langflor Teppich taste ich ab, doch ohne fündig zu werden.
„Im Arbeitszimmer ist es nicht."
Auf den Boden sitzend gucke ich zu Emma hoch und schüttele resigniert den Kopf. Ich krieche zum Sofa, stütze mich darauf ab und erhebe mich ächzend. Emmas Magen gibt ein Knurren von sich, was mich nicht wundert, denn es ist schon viertel vor zwei.
„Was hältst du von Rührei mit Tomaten zum Mittagessen?"
„Das klingt gut", meint sie lächelnd. „Ich geh dann kurz ins Bad. Du schaffst das ja allein." Sie behandelt mich ganz normal und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Traurigerweise tun das nicht alle. Wenn man im Rollstuhl sitzt, wird man oft wie ein Kind behandelt, so als ob man hilflos wäre. Ich habe studiert und trotzdem denken manche aus Unwissenheit, ich wäre geistig behindert.
Mit einer Hand an der Wand, um etwas Halt zu haben, mache ich mich auf den Weg zur Küche. Dort schneide ich zwei Tomaten in Würfel, die dann in die Pfanne kommen, um sie etwas anzuschwitzen. Als die Tomaten gut aussehen, schlage ich vier Eier rein und rühre alles gut um.
Meine beste Freundin kommt fertig angezogen und nicht mehr im Schlafoutfit in die Küche und lässt sich auf einem Stuhl an dem kleinen runden Esstisch nieder.
„Wo hast du das Medaillon zum letzten Mal gesehen? Hast du es vielleicht abgenommen und irgendwo hingelegt?"
„Du weißt doch, dass ich es fast nie abnehme."
Als ich das Essen auf die Teller verteile, fällt mir ein, ich hatte mit den Fingern die Gravur nachgefahren, bevor Emma tanzen ging und die Stars aufgetaucht waren.
„Was ist? Ist dir eingefallen, wo es sein könnte?" Auf meinem Gesicht hat sie bestimmt einen Ausdruck der Erkenntnis gesehen.
„Ja. Als wir im Club waren, habe ich es kurz berührt."
„Dann hast du es entweder dort oder im Auto verloren."
„Oder auf dem Parkplatz."
Emma steht auf und bringt die Teller zum Tisch. Ich nehme auf dem Stuhl gegenüber von ihr Platz, während sie noch das Besteck holt.
„Ich sehe gleich im Auto nach und du kannst im Club anrufen, vielleicht haben sie es gefunden." Ich schaue sie skeptisch an, da ich mir nicht vorstellen kann, dass es jemand, wenn er es gefunden hatte, abgeben würde.
„Vicky, ich weiß, wie viel dir das Medaillon bedeutet. Wir werden es schon finden", sagt sie und lächelt mir aufmunternd zu.
Nachdem wir fertig gegessen haben, geht Emma zum Auto, während ich die Teller und das Besteck in die kleine Spülmaschine räume und die Pfanne spüle.
Aus dem Schlafzimmer hole ich mein Smartphone und setze mich im Wohnzimmer aufs Sofa. Die Nummer des Clubs ist schnell gefunden. Es klingelt fünfmal, eh jemand abnimmt.
„Browne." Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung klingt freundlich und als ob sie einer älteren Dame gehört.
„Hallo Mrs. Browne, Morgan, mein Name, ich störe Sie nur ungern, aber ich war heute Nacht bei Ihnen im Club und habe mein Medaillon verloren. Haben Sie es vielleicht gefunden oder wurde es bei Ihnen abgegeben?"
„Warten Sie kurz, ich sehe nach."  Zuerst wird es still und dann ist ein Rascheln zu hören. „Tut mir leid, bei uns wurde nichts abgegeben."
„Okay, trotzdem danke für Ihre Mühe. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag", bedanke ich mich und lege auf.
Niedergeschlagen lasse ich das Handy in meinen Schoß fallen, lehne mich zurück und schließe die Augen. Wie konnte ich es nur verlieren? Wieso ist es mir erst heute aufgefallen?
Ich sehe meine Oma noch vor mir, wie sie es aus ihrem Schmuckkästchen holt und mir in die Hand drückt. Das Erbstück trug sie sehr oft. Ich will ihr das Medaillon zurückgeben, aber sie hält mich mit den Worten zurück: „Ich habe mich entschieden, es dir zu schenken, es wird in unserer Familie immer an die nächste Generation weiter gegeben. Da ich keine Tochter habe, gehört es jetzt dir."
Die Haustür fällt krachend ins Schloss und holt mich in die Gegenwart zurück. Emma kommt ins Wohnzimmer gestürzt.
„Was ist los? Hast du es gefunden?", frage ich sie hoffnungsvoll.
„Nicht ganz."
„Wie, jetzt hast du es gefunden oder nicht?"
„Ich weiß, wer es gefunden hat."
„Und wer ist es?"
„Das wirst du mir nicht glauben", sagt sie, kommt auf mich zu und hält mir ihr Handy zum zweiten Mal an diesem Tag vors Gesicht.
Ich sehe einen Post, auf dem mein Medaillon abgebildet ist. Unter dem Bild steht:
Ich denke, für die Besitzerin ist dieses Medaillon sehr wichtig. Wenn du mir sagen kannst, was auf der Rückseite eingraviert ist, schicke ich es an dich zurück.
Den Post hat dieser jemand geteilt, auf dessen Seite Emma sich befindet. Ich gucke auf ihr Smartphone und meine Augen werden immer größer.
„Von wem stammt der original Post?", frage ich sie, obwohl ich schon ahne, wer es gefunden hat.

Liebe auf wackligen BeinenWhere stories live. Discover now