Kapitel 13

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Das Taxi biegt in die Straße ein, in der meine Eltern wohnen und in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Beim Anblick der Häuser kommen viele Erinnerungen hoch. Vor Mr. und Mrs. Martins Haustür brach ich mir mit 9 Jahren beim Inlinerfahren das rechte Bein, weil ich auf einem Bein gefahren war. Hinter dem Eichenbaum von Mr. Clarke hatte ich mit 13 Britney, meine erste Freundin, geküsst. Wir fahren auch am Haus von Mr. und Mrs. Mitchell vorbei, den Eltern von Carter. Die Jalousien im ganzen Haus sind zugezogen. Also sind die beiden nicht daheim. Ich glaube, er hatte mir erzählt, dass seine Eltern über Weihnachten bei seinem Bruder waren, der in der Nähe von Portland wohnt. In dem Keller von den Mitchells probten wir damals und schrieben Songs.
Ein großer Teil meines Lebens hatte sich hier in Ellensburg abgespielt. Als ich hier noch durch die Straßen gelaufen war, hätte ich nicht gedacht, dass ich mal in Los Angeles leben und Ellensburg nur drei bis viermal im Jahr besuchen würde. Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass aus den vier Jungs, die im Keller Musik machten und in ein paar Bars als Coverband auftraten, Stars werden würden.
Das Taxi hielt vor einem weißen Haus mit einer weißen Veranda und einem schwarzen Dach. Da mein Dad nichts von übertriebener Weihnachtsdekoration hält, steht vor der Haustür nur ein blinkender Schneemann und an der Haustür hängt ein Kranz.
Dad hatte Mums Rosen winterfest gemacht, indem er sie in so etwas wie Mülltüten gesteckt hat. Vermutlich sieht es hinterm Haus auch so aus, denn meine Mum ist Hobbygärtnerin und besitzt eine Menge Blumen und Sträucher. Die Erdbeeren, die in ihrem Garten wachsen, schmecken viel besser als die, die man im Supermarkt kaufen kann.
Obwohl ich einen weiteren Weg habe als meine Geschwister, sehe ich weder den alten, blauen Ford, meiner jüngeren Schwester, die in Seattle lebt, noch den schwarzen Volvo meines älteren Bruders auf dem Hof stehen.
Meine Fahrt hat 51 $ gekostet, das zeigt zumindest das Taxameter an. Ich hole aus meinem Portemonnaie 60 Dollar heraus, die ich dem Mann, der hinterm Steuer sitzt, reiche, bevor ich nach der Reisetasche greife, die neben mir auf dem Beifahrersitz liegt und aussteige. Lächelnd gehe ich die drei Stufen bis zur Haustür hoch und klingele.
Die Tür wird schwungvoll geöffnet und meine Mutter drückt mich an ihre Brust.
„Karen Schatz, erdrück ihn nicht."
„Ach Joe, ich erdrücke ihn schon nicht." Sie lässt von mir ab und dreht sich zu Dad um.
Meine Mum ist eine dieser Frauen, die jetzt im Alter ein wenig geschrumpft und pummelig geworden ist. Ihre blond gefärbten, kurzen Haare stehen etwas ab, sodass es so aussieht, als ob sie gerade aus dem Bett käme. Sie trägt eine schwarze Stoffhose und einen grauen Pullover. Außerdem hat sie sich eine geblümte Schürze umgebunden.
Mein Dad, der mir jetzt die Hand reicht und mich kurz umarmt, ist zwei Köpfe größer als Mum. Seine früher blonden Haare sind mittlerweile grau und nicht mehr so voll wie einst. Seit er vor einem Jahr in Rente gegangen war, hat er ein wenig zugenommen, was ihm gut steht. Er trägt eine dunkelblaue Hose und ein blau-weiß kariertes Hemd.
Nachdem die beiden zur Seite gehen, kann ich endlich eintreten. Im Flur riecht es nach überbackenem Fisch, Bratkartoffeln und danach, als ob etwas anbrennen würde.
„Der Kuchen!", stößt Mum hervor und läuft in die Küche.
„Wie war dein Flug?"
„Ganz okay."
Ein dreistündiger Flug kommt einem gar nicht so lang vor, wenn man wie ich oft um die halbe Welt für Dreharbeiten, TV-Auftritte, Konzerte oder Fotoshootings flog und daher viel längere Flüge gewohnt ist.
„Bin ich etwa wieder einmal der Erste?"
Dad nickt nur lächelnd.
„Aber die anderen kommen doch, oder?"
„Malcolm und Emily haben vorhin angerufen. Sie stehen im Stau und kommen daher etwas später", sagt Dad. Mein älterer Bruder Malcolm lebt mit seiner Verlobten in Portland und dieses Jahr verbringen sie den 24. Dezember mit uns und nächstes Jahr würden sie den heiligen Abend bei ihrer Familie sein und erst am zweiten Weihnachtstag nach Ellensburg kommen.
„Jenny müsste gleich kommen", ruft Mum aus der Küche.
„Was heißt gleich?"
„Du kennst doch deine Schwester, sie kommt immer etwas später." Dad zuckt mit den Schultern und lächelt nachsichtig.
Jenny verspätet sich grundsätzlich immer, was daran liegt, dass sie sich zu viel vornimmt und dann falsch einschätzt, wie lange sie für eine Tätigkeit braucht.
„Bring deine Sachen nach oben und dann kannst du mir in der Küche helfen. Joe, solltest du nicht langsam losfahren, um deine Mutter abzuholen?" Mum ist wieder zu uns getreten und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Dad sieht auf seine Armbanduhr und nimmt seine Jacke von der Garderobe.
Meine 88-jährige Großmutter Mildred lebt in einem Altersheim am anderen Ende der Stadt. Bis vor fünf Jahren hatte sie noch hier gewohnt, aber nach ihrem Sturz kann sie keine Treppen mehr steigen. Mum und Dad hätten sie gern hierbehalten, aber aufgrund ihres Bandscheibenvorfalls kann meine Mutter die Pflege nicht übernehmen und so hatten sie sich schweren Herzens dafür entschieden, Großmutter ins Altersheim zu geben. Mein einer Onkel war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben und meine Tante benötigt mittlerweile selbst Hilfe im Haushalt. Der jüngste Bruder von meinem Vater, der auch schon Anfang 50 ist, wohnt mit seiner Frau in einer kleinen Wohnung im dritten Stock, und da Großmutter nicht in die Wohnung kommt, konnte er sich auch nicht um sie kümmern.
„Du hast recht, Schatz. Ich sollte jetzt losfahren, denn heute ist auf den Straßen bestimmt viel los wie jedes Jahr am Heiligabend." Dad gibt Mum noch einen Kuss, bevor er das Haus verlässt.
Sobald ich die Treppe hochgehe, verschwindet Mum wieder in der Küche. Oben angekommen gehe ich einen schmalen Flur entlang und betrete den dritten Raum auf der linken Seite. Mein altes Zimmer sieht noch fast genauso aus, wie ich es zurückgelassen habe. Nur das Bett ist von meinen Eltern gegen ein neues ersetzt worden. Die Reisetasche mit den Klamotten und den Geschenken lege ich aufs Bett, bevor ich mich ins Badezimmer begebe.
Nachdem ich im Bad gewesen bin, gehe ich wieder in mein Zimmer, um die Weihnachtsgeschenke aus der Tasche zu holen, um sie gleich unter den Tannenbaum im Wohnzimmer zu legen.
Als ich mein ehemaliges Kinderzimmer verlasse, höre ich von unten meine Schwester fragen: „Ist Alex schon da?"
„Ja, ich bin mal wieder vor dir angekommen", schreie ich hinunter und laufe mit den Geschenken im Arm die Treppe runter.
„Wenn ich geflogen wäre, wäre ich auch früher da gewesen. Auf den Straßen ist die Hölle los, musst du wissen", entgegnet sie, während sie ihre Jacke aufhängt.
Mum hat den künstlichen Tannenbaum wieder mal schön geschmückt. An dem Baum hängen bunte Kugeln und die Lichterkette ist ordentlich drapiert. Ich lege meine Geschenke unter den Baum, drehe mich um und umarme Jenny, die mir ins Wohnzimmer gefolgt ist.
„Lässt du dir die Haare für den vierten Teil von Uni L.A. wachsen?"
Ich nicke und fahre mir mit einer Hand durch die braune Mähne.
„Jenny, Alex könnt ihr mir in der Küche helfen?"
„Ja!", rufen wir wie aus einem Mund.
Jenny geht schon in die Küche, während ich mich noch mal umdrehe und ein Foto vom Tannenbaum mit meinem Handy mache, das ich dann an Victoria schicke. Sie hat mir heute Morgen ein Foto von ihrem Tannenbaum geschickt. Ich schreibe ihr fast jeden Tag oder sende ihr Bilder. Sie ist eine sehr nette Person, die viel Humor besitzt. Vicky, so darf ich sie mittlerweile nennen, ist ein Familienmensch. Heute kommt ihr Bruder mit seiner Frau und ihre Mutter mit ihrem Freund zu ihr. Und morgen würde sie mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin zu ihrem Vater fahren. Ihre Eltern sind schon seit ungefähr neun Jahren geschieden.
Vor zwei Wochen war das Paket mit meinem Geschenk nach fünf Wochen endlich bei ihr angekommen. Sie hatte sich für den Armbandanhänger in der Form eines Pumps bedankt, aber gemeint, das wäre nicht nötig gewesen. Ich freue mich einfach darüber, dass ihr der Anhänger gefällt. Wenn Vicky ihn ab und zu tragen würde und dabei an mich dachte, hätte sich die Mühe gelohnt. Alice, Greg, der von ihr mitgeschleift wurde, und ich klapperten drei verschiedene Juweliere ab, bis wir etwas Passendes gefunden hatten. Es war nicht leicht gewesen, etwas Dezentes zu finden, was man auch einer Frau schenken konnte, mit der man nicht zusammen war.  Alice fragte mich, ob ich wüsste, ob Victoria außer dem Medaillon noch anderen Schmuck trug. Zum Glück war mir eingefallen, dass auf vielen Fotos ein Bettelarmband ihr Handgelenk zierte. Alice hat jetzt was gut bei mir, weil sie mir geholfen hatte. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.
„Alex!", ruft Mum erneut nach mir.
Mit dem Handy in der Hand betrete ich die Küche, in der ein ziemliches Chaos herrscht.
„Was kann ich tun?" Ich schaue vom Handy auf und sehe, wie Mum Jenny den Plätzchenteller aus der Hand nimmt, damit sie sich keinen weiteren Keks in den Mund schieben kann.
„Mit wem schreibst du?" Jenny geht an mir vorbei, um an den Kühlschrank zu kommen.
„Mit niemanden", erwidere ich ertappt, werfe noch einen Blick aufs Smartphone und stecke es weg. Vicky wird mir jetzt eh nicht antworten, denn in London ist es gerade mitten in der Nacht. Ich kann in fünf bis sechs Stunden mit einer Reaktion von ihr rechnen.
„Nach dem Blick zu urteilen ist dieser niemand eine Frau." Jenny schneidet eine Gurke in Scheiben.
Dafür, dass sie das Thema Freundin angeschnitten hat, gucke ich sie böse an. Vicky ist nur eine Freundin, oder?
„Hast du jemanden kennengelernt?" Mum dreht sich mit dem Messer in der Hand, mit dem sie die Tomaten geschnitten hat, zu mir um.
„Wir alle lernen jeden Tag Menschen kennen." Ich weiche dem hoffnungsvollen Blick meiner Mutter aus.
„Du weißt ganz genau, wie das gemeint war."
„Mum, im Moment habe ich keine Zeit für eine Beziehung."
„Du bist einfach zu wählerisch."
„Nein, das bin ich nicht. Ich habe einfach noch nicht die Frau gefunden, die ich so lieben könnte, wie Dad dich liebt."
Meine Eltern sind seit über 35 Jahren verheiratet und liebten sich noch genauso doll wie am Tag ihrer Hochzeit. Egal wie heftig sie stritten, sie vertrugen sich immer noch am selben Tag. Ich glaube, sie sind nie ins Bett gegangen, wenn einer auf den anderen sauer war. In den ganzen Jahren hatten sie sich immer gegenseitig unterstützt. Vor kleinen und großen Problemen hatten sie sich zusammengesetzt, darüber gesprochen und dann eine Entscheidung getroffen, die für uns als Familie die beste war.
„Ach Alex, ich möchte dich doch nur glücklich sehen."
Sie macht sich nur Sorgen darüber, dass ich allein bleiben könnte. Ihrer Meinung nach wäre ich mit einer Partnerin glücklicher. Wie jede Mutter will sie nur mein Bestes und wie jeder gute Sohn möchte ich meiner Mum keinen Kummer bereiten. Mir gefällt es doch auch nicht allein zu sein, doch im Moment konnte ich nichts daran ändern. Die richtige Frau hatte ich bisher halt einfach noch nicht getroffen.
„Mum, macht dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, du wirst meine Zukünftige noch kennenlernen und mit mir auf meiner Hochzeit tanzen." Lächelnd sehe ich sie an und stecke die Hände in die Hosentaschen.
Der Ofen piept und Mum läuft zu ihm und holt eine Ente heraus. Sie hat wieder viel zu viel gekocht. Wir sind nur sieben Personen oder eher gesagt sechs, denn Großmutter isst sehr wenig. Was sie zubereitet hat, reicht, um vier weitere Personen satt zu kriegen. Zu Thanksgiving mussten Jenny, Malcolm und ich schon viel mitnehmen.
„Mum, du hast wieder viel zu viel gekocht", sagt Jenny, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
„Es wäre nicht zu viel, wenn du einen Freund hättest und Alex eine Freundin oder einer von euch mich endlich zu Großmutter machen würde."
„Aber das reicht für mindestens noch vier weitere Personen. Du weißt doch, dass weibliche Stars sehr auf ihre Figur achten und daher nicht viel essen. Also brauchst du für Alex zukünftige Freundin eh nicht mit zu kochen und ein Mann allein oder zwei Kinder, um die du Malcolm bitten musst, da wir beide noch Single sind, können nicht Essen für vier Personen verdrücken."
Models essen wirklich wenig, doch bei Schauspielerinnen, Sängerinnen und Moderatorinnen ist das manchmal anders. Ich hatte schon welche kennengelernt, die normal und auch gern etwas Süßes essen und dafür laufen sie halt vielleicht 15 Minuten länger auf dem Laufband.
„Ich gehe doch nicht nur mit Promi-Frauen aus." Mir war es relativ schnuppe, was meine zukünftige Frau von Beruf wäre. Nur eins ist wichtig und zwar, dass sie mich wegen meiner selbst liebte und nicht weil ich berühmt bin oder viel besitze. Ich könnte mich auch in eine Sekretärin oder eine Putzfrau verlieben."Ach ja, ich vergas, du nimmst auch Groupies mit nach Hause."
„Euer Vater müsste gleich mit eurer Großmutter da sein, also könnt ihr schon den Tisch decken", sagt Mum und sieht Jenny nur kopfschüttelnd an.

Liebe auf wackligen BeinenWhere stories live. Discover now