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Doch auch ein zweites und drittes Mal Blinzeln half nichts. Auf dem freien Platz fläzte lässig ein Typ, der in unserer Küche absolut nichts zu suchen hatte. Doch sein Anblick ließ mein Herz sofort höherschlagen. Wie in meiner Vorstellung sah er einfach umwerfend aus. Die dunklen Haare waren verstrubbelt, das Gesicht markant mit einer definierten Drawline. Er trug hellblaue Jeans, einen grauen Hoodie, dessen Ärmel er jetzt bis zu den Ellenbogen hochschob, und weiße Sneaker. Als er den Blick hob und ihn auf mich richtete, schnappte ich abrupt nach Luft. Seine dunklen Augen leuchteten plötzlich auf, während sich ein überraschter Zug auf sein atemberaubendes Gesicht schlich. „Du kannst mich sehen", stieß er hervor.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Ich konnte nichts dagegen tun, aber sein plötzliches Auftauchen hatte mir die Sprache verschlagen – und ließ mich eindeutig an meinem Verstand zweifeln. Doch da wurde ich bereits abgelenkt.

„Sophie!", rief in diesem Moment meine Mutter und breitete die Arme aus. „Alles Liebe zum Geburtstag!" Sie kam auf mich zu und zog mich fest an sich. „Tu nichts, was ich nicht auch tun würde", flüsterte sie mir ins Ohr und grinste verschwörerisch.

„Eins, zwei, drei", zählte Mila, und dann begann meine Familie ein Geburtstagslied für mich zu singen. Meine Mutter hatte die Umarmung gelöst und drückte mir jetzt fest die Hand.

Vor Rührung stiegen mir Tränen in die Augen. Schnell blinzelte ich sie weg, weil es mir peinlich war. Und ein bisschen auch, weil sich jetzt der Typ erhoben hatte und auf mich zukam.

„Du siehst mich, oder?", stellte er vollkommen schlicht fest, während er wie eine Raubkatze mit geschmeidigen Bewegungen auf mich zuschlenderte.

Wieder wich ich einen Schritt zurück und löste mich damit aus dem Händedruck meiner Mutter. Diese lief zurück und stellte den Kuchen auf den Tisch, dessen Kerzen bereits brannten. Krampfhaft versuchte ich ihn zu ignorieren und mich auf meine noch immer singende Familie zu konzentrieren. Ich sah angestrengt auf meinen kleinen Bruder, doch der Typ wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

„Ich weiß, dass du mich sehen kannst, Süße", sagte er an meinem Ohr, als er sich mir entgegengebeugt hatte. „Ich hab's in deinen Augen gesehen."

„Pffft", machte ich gereizt. Mein Unterbewusstsein musste reichlich gestresst sein, wenn es mir vorgaukelte, dass DER Wattpad-Idiot höchstpersönlich in meiner Küche stand und mit mir redete. Was war gestern Nacht nur passiert, dass ich dermaßen fantasierte? War ich aus dem Bett gefallen und hatte mir den Kopf derbe angestoßen? Ich sollte bei Gelegenheit mal nach einer fetten Beule suchen.

„Komm Sis!" Jetzt zog Mila mich energisch in die Küche an den Tisch, wo der Schokoladenkuchen an meinem Platz stand. Ihn zierten zwei große brennende Kerze, eine Eins und eine Sieben, und daneben waren einige bunte Pakete drapiert. „Setz dich und pack endlich deine Geschenke aus."

Ich tat ihr den Gefallen, auch wenn ich mich merkwürdig fühlte auf dem Stuhl, auf dem gerade noch der Typ gesessen hatte. DER stand übrigens jetzt hinter mir und beugte sich interessiert über meine Schulter, während ich andächtig das Geschenkpapier öffnete und die Schauer vehement ignorierte, die seine Anwesenheit nahezu sekündlich über meinen Rücken schickte. Ich hasste das Gefühl.

Von meinen Eltern bekam ich einen neuen Schulrucksack, der viel Platz für meine Bücher und all den anderen Schulkram bot. Mila schenkte mir ein Buch über diverse Zeichentechniken, das ich später auf alle Fälle nach neuen Ideen durchblättern wollte. Meine kleinen Geschwister hatten zusammengelegt und mir ein Kästchen mit Stiften eingepackt.

„Du malst?", raunte mir der Typ ins Ohr.

Wieder zuckte ich zusammen und spürte, wie sich all meine Härchen gleichzeitig aufstellten. Vielleicht musste ich dringend noch eine Runde Schlaf nachholen, damit meine Wahnvorstellungen endlich verschwanden. Doch erst nötigte mich meine Familie zu frühstücken. Die ganze Zeit lief mein Favorite-Bookboyfriend dabei um den Tisch herum, kratzte sich hin und wieder nachdenklich am Kinn und raubte mir den letzten Nerv. So gut es ging versuchte ich mir vor meiner Familie nichts anmerken zu lassen, obwohl meine Anspannung minütlich stieg. Ernsthaft. Ich sollte jemanden mit Couch aufsuchen, um das Hirngespinst zu vertreiben.

„Was liegt heute noch so an?", fragte mein Vater irgendwann im Laufe des Frühstücks. „Kommt Luca noch?"

Ich war mir nicht sicher, ob er tatsächlich kommen würde. Also zuckte ich mit den Schultern. „Eigentlich habe ich keine Pläne gemacht."

„Ich könnte Pläne für uns machen." Wieder stand er hinter mir und jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Körper. „Hätte ich gewusst, dass du Geburtstag hast, Süße, hätte ich ..."

„Ich habe Pläne gemacht", unterbrach Mila den Typen in meinem Rücken. „Heute ist die NFF-Party im Club, und da werden wir hingehen."

„Oh nein."

„Oh doch", nickte Mila eifrig.

„Klingt gut", sagte auch meine Wahnvorstellung. „Ich bin dabei!"

„Besteht die Chance, dass du dir diesen Plan aus dem Kopf schlägst?", fragte ich trocken und wusste dabei nicht genau, an wen ich die Frage überhaupt richtete. Ich wollte weder in den Club, noch wollte ich, dass uns meine fleischgewordene Fantasie dabei begleitete.

„Auf keinen Fall", sagten beide wie aus einem Munde.

Innerlich verdrehte ich die Augen und fügte mich stumm in mein Schicksal. Wenn Mila sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie niemand davon ab. Doch bis heute Abend war es mir sicher gelungen, ein bisschen zu schlafen und den Typen endlich loszuwerden. Bis dahin allerdings musste ich mich mit meiner psychischen Verfassung auseinandersetzen und den Tatsachen ins Auge sehen: Ich war verrückt.

Schwungvoll stand ich auf, murmelte eine Entschuldigung und berührte dabei den Tisch, sodass er bedrohlich wackelte. Dadurch schwappte eine der Kaffeetassen über und hinterließ eine braune Pfütze auf der Tischplatte. Egal. Ich musste mit meiner Wahnvorstellung reden.

Jetzt.

Schnell drehte ich mich um mich selbst und zog ihn dabei beiläufig am Arm. Fast hatte ich erwartet, dass meine Finger einfach durch Luft streifen würden, doch der Arm war tatsächlich fest. Ich schnappte nach Luft.

Ein breites Grinsen trat auf sein Gesicht. „Du siehst mich", zwinkerte er. „Süße, hör auf es abzustreiten. Du siehst mich, und es gefällt dir."

„Komm", zischte ich ihm zu. An meine Familie gewandt sagte ich: „Ich werde gleich mal meine neuen Stifte ausprobieren. Vielen Dank." Damit klaubte ich meine Geschenke zusammen und verließ die Küche, meinen wahrgewordenen Albtraum im Schlepptau.

„Aber wir wollten doch noch über die Party heute Abend sprechen", warf Mila entrüstet ein.

„Später!"

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1037 Wörter

What if ...Where stories live. Discover now