Unerwartetes Gefühlschaos

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Der nächste Morgen bricht kühl und grau herein. Da es die halbe Nacht geregnet hat, hängt trüber Nebel zwischen den Gebäuden, als Sillír und ich meine Wohnung verlassen.

Der Fae trägt wieder meinen Kapuzenmantel, um sein Gesicht verdecken zu können. Diesmal schützt er ihn auch vor dem leichten Niesel, der Stein und Pflanzen benetzt und von meiner Hutkrempe tropft.

Außer uns sind nur wenige Menschen zu dieser frühen Stunde unterwegs. Wir begegnen einem älteren Mann mit Zylinder, der seinen Hund spazieren führt und uns einen langen Blick hinterherwirft, als hätte auf seinem Morgenspaziergang nie zuvor jemand seinen Weg gekreuzt. Sein Tier bellt uns laut nach.

Auf der anderen Straßenseite schließt eine Frau mit hüftlangen, dunklen Locken ihren Laden auf. Das Klacken eines Schlüssels im Schloss durchbricht die Stille, die vereinzelt von Vogelrufen erfüllt wird.

Aufmerksam lasse ich meinen Blick weiter umherschweifen. Noch einmal werde ich mich nicht derart überwältigen lassen, wie zwei Abende zuvor, als Wolfram mich angegriffen hat.

Wir müssen das Polizeirevier nicht einmal betreten. Zabel wartet bereits neben dem Eingang auf uns, den Rücken an die Hauswand gelehnt und eine Zigarre im Mund. Flache Stufen führen zu einer großen, zeiflügeligen Tür im kahlen Gemäuer.

„Die Kutsche kommt gleich", sagt Zabel dumpf und pustet Qualmwolken aus, die sich mit den Nebelschwaden vermischt.

Die ersten rosig-goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne vertreiben die letzten Fetzen Regenwolken am Himmel, mit denen auch der Niesel verschwindet. Es wird zunehmend heller, derweil der Nebel sich langsam zurückzieht.

Das Klappern von Hufen durchdringt die morgendliche Stille, Sekunden später nähert sich die kleine Polizeikutsche durch einen schmalen Torbogen zwischen den Gebäuden.

Zabel schnippt seine Zigarre auf den gepflasterten Boden und tritt sie aus. „Wo soll es als erstes hingehen?", fragt er brummend wie eh und je, reibt sich über das Kinn und öffnet die Kutschtür, um Sillír einsteigen zu lassen.

Ich folge beiden, nachdem ich dem stämmigen Kutscher die erste Adresse genannt habe.

„Zu einem alten Freund, der mir schon öfter geholfen hat", beantworte ich Zabels Frage und schließe die Kutschtür hinter mir. Wenig später setzt sich das Gefährt in Bewegung.

Holpernd rollen die großen Räder über den Stein der Straßen Westhavens, indes außerhalb der Alltag ebenfalls an Fahrt aufnimmt. Das Gelächter zur Schule gehender Kinder ist zu hören, die Stimmen einer Gruppe Frauen, die mit Einkaufskörben an uns vorbeiziehen.

Bald vermischen sich die Geräusche der belebten Stadt mit dem Kreischen von Möwen und dem Rauschen der Wellen. Die Kutsche biegt in eine Straße ein, die direkt auf den Hafen zu führt, der sich ein ganzes Stück am Meeresufer entlangzieht.

Kurz darauf befinden wir uns auf der Promenade und queren sämtliche Stege, an denen Boote und Schiffe unterschiedlicher Größe vertäut sind. Weitere befinden sich auf dem Weg hinaus aufs Meer. Die weißschwarzen Vögel, deren Geschrei wir schon von Weitem gehört haben, kreisen am strahlend blauen Himmel oder hocken auf Dächern und Mauern.

Sillírs Augen leuchten auf. Er streckt seinen Kopf aus dem geöffneten Fenster, um die frische Salzluft in sich aufzunehmen. Halb fegt diese ihm die Kapuze vom Kopf. Da er zu meiner linken Seite im hinteren Teil der Kutsche sitzt hat er einen direkten Blick über das Treiben im Hafen und draußen auf dem Wasser.

„Es ist so lange her, dass ich es gesehen und gerochen habe", flüstert der Fae. ,,Das Meer."

Gerade so erkenne ich, wie seine Mundwinkel zucken, als wollte sich ein Lächeln auf Sillírs Lippen stehlen. Seine spitzen Ohren stehen kerzengerade in die Höhe.

[ONC 2024] Detektiv Schwarzherz und der Fall des KönigsWhere stories live. Discover now