𝐚𝐜𝐡𝐭𝐮𝐧𝐝𝐯𝐢𝐞𝐫𝐳𝐢𝐠 - 𝐰𝐢𝐞 𝐠𝐞𝐡𝐭 𝐞𝐬 𝐣𝐞𝐭𝐳𝐭 𝐰𝐞𝐢𝐭𝐞𝐫?

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Ivana

Mein Atem ging flach. Mein Herz schlug viel zu laut, viel zu schnell. Ich wollte sprechen, ich musste aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Liv stand immer noch vor mir, wartete auf eine Antwort, aber ich... ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte.

„Ich..."
Meine Stimme versagte.
Ich schluckte und versuchte es erneut.
„Als ich entführt wurde..."
Ich sah sie an. Ihre Augen waren voller Fragen, voller Angst und Zweifel.
„Da haben sie mich... da haben sie mich in einen Stripclub gesteckt." Ich konnte den Ekel kaum in Worte fassen. Allein die Erinnerung daran ließ mich wieder in mich selbst zurückfallen.
„Ich musste dort arbeiten. Zwang. Keine Wahl. Es gab kein Entkommen."

Liv presste ihre Lippen aufeinander. Ich sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte.

„Und... Carmen war da auch", flüsterte ich. „Zusammen mit einem anderen Mädchen. Natalia. Wir... wir haben uns angefreundet. Haben zusammen geweint, heimlich geredet, versucht, durchzuhalten. Sie... sie hatte dasselbe durchgemacht wie ich. Auch entführt. Auch gezwungen zu tanzen. Nur... sie war irgendwie... zerbrechlicher. Sanfter. Sie hat versucht, uns alle mit ihrer liebevollen Art Hoffnung zu geben."

Livs Augen füllten sich mit Tränen. Ich sah, wie sie schwer atmete, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

Ich konnte ihr kaum in die Augen schauen.
„Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Alejandro... er sagte mir damals, er würde sie nicht verkaufen. Er hat mir geschworen, dass sie freikommt. Dass sie verschont wird."
Ich lachte bitter. „Aber jetzt sitze ich hier. Und ich weiß nicht, ob er gelogen hat. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Oder ob sie längst... weg ist. Vielleicht war das alles nur ein Trick, um mich gefügig zu machen."

Ich wagte es, aufzublicken.

Liv stand da wie versteinert. Kein Wort. Kein Ausdruck. Nur Tränen in ihren Augen und ein Gesicht, das jede Farbe verloren hatte.
Die Stille zwischen uns war plötzlich ohrenbetäubend.

Sie brach in Tränen aus.

Ohne ein weiteres Wort sackte Liv neben mir auf die Couch, vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Es war kein leises, zurückhaltendes Schluchzen es war roh, erschütternd. Ich spürte, wie jede einzelne Träne, die sie vergoß, die Stille zwischen uns zerriss.

„Seit zwei Jahren...", schluchzte sie. „Seit zwei verdammten Jahren ist sie verschwunden... Unsere Eltern... sie wussten nicht, wo sie war. Ich nicht. Ihre Freunde nicht. Niemand. Die Polizei hat irgendwann einfach gesagt, sie wäre vielleicht freiwillig weg. Um ein neues Leben zu beginnen. Aber..." ihre Stimme brach
„Ich kenne meine Schwester. Sie hätte das nie getan. Niemals hätte sie uns so zurückgelassen."

Ich saß wie erstarrt neben ihr. Ich hätte etwas sagen sollen. Etwas Tröstendes. Doch meine Worte lagen schwer und scharf in meinem Hals, wie Glassplitter, die ich nicht ausspucken konnte.

„Und jetzt sowas von dir zu hören..." Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, versuchte sich zu fassen. „Es erleichtert mich. So krank es klingt. Sie lebt also noch. Sie hat gelebt. Du hast sie gesehen. Sie hat durchgehalten... irgendwie."

Ich nickte stumm. Ein Kloß saß in meinem Hals, der mich fast würgte.

„Ich weiß nur nicht, wo sie jetzt ist", flüsterte ich. „Ob Alejandro sein Wort gehalten hat oder... ob er mich nur benutzt hat. Vielleicht ist sie längst weg. Vielleicht schlimmer. Ich weiß es nicht."

Liv atmete zitternd ein, legte ihre Hände auf ihre Knie und starrte auf den Boden.
„Dann finden wir sie", sagte sie plötzlich leise, aber bestimmt.
„Egal, wo sie ist. Egal, was es kostet. Wenn sie das überlebt hat... dann wird sie auch warten. Warten, dass jemand kommt."

Ich sah sie an. Für einen Moment war da wieder dieser Ausdruck in ihren Augen Schmerz, Wut, Hoffnung. Und ich wusste: Das hier war nicht mehr nur meine Geschichte.

Ich schüttelte langsam den Kopf, mein Blick wanderte wieder zu dem Bild an der Wand.
„Ich kann dir nicht sagen, wo sie ist", murmelte ich, kaum hörbar. „Ich hab keine Ahnung, wo dieser Stripclub war... sonst hätte ich dir längst gesagt: Fahr mich hin. Lass uns dahin zurückgehen. Lass uns Carmen holen."

Meine Stimme bebte. Der Gedanke, wieder dorthin zurückzukehren, schnürte mir die Kehle zu aber für Carmen? Ich hätte es getan. Ich würde es immer noch tun.

Liv schnaubte leise, aber nicht spöttisch. Mehr wie jemand, der sich gegen eine Welle aus Ohnmacht stemmt.
„Also warst du eingesperrt. Komplett abgeschirmt von allem."

Ich nickte. „Fensterlos. Kein Tageslicht. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht. Keine Ahnung, wo du überhaupt bist. Und wenn du fragst... kriegst du keine Antwort. Oder eine Faust."

Livs Gesicht veränderte sich. Es war nicht mehr nur Trauer. Da war jetzt Wut.
„Dann finden wir eine andere Möglichkeit", sagte sie ruhig. „Irgendwer muss diesen Club kennen. Irgendwer muss wissen, wo solche Dinge ablaufen."

Ich blickte sie an. Diese Frau hatte mich gerade erst kennengelernt. Sie hätte mich genauso gut ignorieren können wie alle anderen. Aber jetzt saß sie hier, mit brennenden Augen und zitternden Fingern bereit, für ihre Schwester in die Hölle zu gehen.

Und irgendwie... war das genau die Energie, die ich gebraucht hatte.

„Danke", flüsterte ich nur.
Mehr konnte ich in dem Moment nicht sagen.

Wir redeten noch eine ganze Weile miteinander. Ich saß in Livs Wohnzimmer, eingekuschelt in eine warme Decke, während der Tee langsam abkühlte, und ließ zum ersten Mal alles raus.

Ich erzählte ihr von Alejandro. Davon, wie er mich in seinem Haus eingesperrt hatte wie ein verdammtes Haustier. Wie ich jeden Tag gehofft hatte, dass es vorbei wäre. Wie ich nachts wachlag, mit dem Gedanken, dass ich vielleicht nie wieder frei sein würde.

Ich erzählte ihr, wie es überhaupt angefangen hatte. Wie ich damals nur als eine Art Glücksbringer für einen meiner Kunden vorgesehen war. Wie ich keine Ahnung hatte, worauf ich mich eingelassen hatte. Und wie ich stattdessen in dieser Hölle gelandet war.

Liv hörte einfach nur zu. Keine Unterbrechung. Kein Mitleid, das wehtat. Nur Stille. Und Verständnis.

Dann fing auch sie an zu reden. Von Carmen. Von der endlosen Suche. Vom Schmerz ihrer Eltern. Vom Gefühl, Tag für Tag aufzuwachen und nicht zu wissen, ob ihre Schwester überhaupt noch lebt
„Aber ich hab es nie geglaubt", sagte sie leise. „Ich hab es einfach nicht glauben können, dass sie uns einfach so verlassen würde. Carmen war nicht so."

Ich konnte in ihren Augen sehen, wie sehr sie sich wünschte, ich hätte ihr sagen können, wo sie war. Doch alles, was ich tun konnte, war, ihr die Hoffnung zu geben, dass Carmen noch lebte. Irgendwo.

Irgendwann war es spät geworden. Liv erhob sich, gähnte müde und warf mir ein schwaches Lächeln zu.
„Ich geh mal schlafen", sagte sie. „Wenn du was brauchst, klopf einfach."

Ich nickte nur, zog die Decke enger um mich. Die Müdigkeit hatte mich schon lange überrollt, aber jetzt, wo ich hier saß warm, in Sicherheit, frei
fühlte es sich wie ein verdammter Traum an.

Ich machte es mir auf der Couch bequem, starrte noch eine Weile an die Decke. Die Gedanken in meinem Kopf wollten nicht zur Ruhe kommen.

Wie es weitergehen würde? Keine Ahnung.
Ich wünschte, ich wüsste es.

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Was denkt ihr wie es weiter gehen wird? 🤭

Alejandro Sanchez | Dark RomanceWhere stories live. Discover now