17.

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Was lehrte einem das Leben?
Wie hart und schwer es ist?
Wie leicht und unbeschwert es sein kann?
Wie sehr es sein Gewicht in die Waagschale werfen kann, die unterscheidet, zwischen arm und reich?
Was für ein schmaler Grat zwischen Glück und Unglück liegt?
Wie plötzlich ein Schicksalschlag einschlagen kann, wie ein Vulkan der nach einem Ausbruch entweder Zerstörung oder fruchtbaren Boden zurücklassen kann?
Dass alles eine warme Somnenseite und eine Schattenseite hat?
Dass man nur durch eigene Kraft die Schattenseite verlassen kann?

Die Luft um Atef und Cosima war angenehm und ungewohnt kühl für diese Jahreszeit und roch leicht nach Erde. Dieser Ort war so unwirklich schön, dass man fast vergaß, dass sich nur hinter einem Vorhang aus Pflanzengeflecht die Welt befand. Die Welt? Atef dachte nach, was sie wohl für ihn bedeutete, für ihn, ein Kind der Schattenseite. Die Welt war zu einigen unfair und gemein, für andere frei und unbeschwert. Manche wurden in Dunkelheit und Armut, und Andere in Licht Wohlstand geboren. Man lebte in Arm und Reich, miteinander und doch so offensichtlich getrennt. Einige Menschen starben in einem Haus voll Besitztümern, andere in einer Hütte und manche allein zwischen vielen anseren Menschen im Krieg. In der Hand hatte man es nicht. Die Welt hatte so verschiedene Seiten und war doch eines: eine Heimat für alle. Auch für ihn und seine Familie und Freunde, dort hinter den Flechten.

Während Atef seinen Gedanken nachhing, stieß Cosi kraftvoll den Rollstuhl von sich. Er passte nicht in dieses Idyll. Wie sie ihn hasste  Jede Faser in ihr sträubte sich jeden Tag aufs Neue, sich ihrem Schicksal hinzugeben. Mit den Armen zog sie sich hinüber zu Atef und lehnte sich an seine sehnige Schulter. Ihr kleiner Bruder. Sie hatte Brüder, wünschte sich aber ihr Leben lang, Atef wäre auch ihr Bruder gewesen. Nichts hätte sich geändert, kein Streit wäre anders verlaufen und auch keine Versöhnung. Ihr Atef. Sie liebte ihn sosehr, wie man nur Geschwister lieben kann. Doch warum lief eine Träne über seine Wange?

Mit zittrigen Fingern holte Atef seine silberne Taschenuhr aus der Hosentasche. Kein echtes Silber, kein materieller Wert, doch war sie das letzte Andenken an seinen Vater Mattheo. Seine Fingerkuppen strichen vorsichtig über die geprägte Rückseite. Viele kleine Blüten drängten sich um den verschnörkelten Buchstaben "M" in der Mitte. Dreck rieselte von der Decke. Bedächtig klappte Atef sie auf und fischte einen gefaltenen Zettel aus dem geräumigen Innenleben. Ein Windstoß ließ die Flechten erzittern und verschluckte die ersten silben von Atefs leise angestimmten Gesangs:"...When I cried and you said: Life is like a Butterfly, so funny and beautiful. After one summer he has to die. And our whole life will end as fast," seine Stimme brach."...as fast this summer pasts. I have one thing for you to say...", Atef faltete das Stück grlbliches Papier auseinander,"...life is strong, so don't hide away."

Die Tuschezeichnung in seinem langgliedrigen Händen zeigte zwei lachende Kinder mit leicht krausen Haaren, die sich in den armen hielten. Die kleine Cosima mit zwei abstehenden Zöpfen und zu großem Kleid, Atef in Badehose und einem Zahnlückenlachen im Gesicht. Was für eine Wundervolle Zeichnerin Lucy doch gewesen war! Cosima griff über Atefs Schulter nach dem Zettel und besah ihn sich. Jeder Strich war mit so viel Liebe auf das Papier gesetzt worden, dass sie förmlich die Anwesenheit von Luc und den beiden glücklichen Kindern spüren konnte. "Wie ein Schmetterling, Hm?", fragte Cosi. "Ich habe den Sinn des Refrains nie verstanden", gab Atef zu,"doch glaube ich, der Schmetterling ist schon vor Monaten gestorben, weil wir schon im Winter des Lebens sind."

Er zog Cosima zu sich und og ihren altvertrauten Geruch in sich auf.

Langsam wurde es spät. "Kannst du mir ihn bringen?", fragte Cosi. Sofort wusste Atef, was gemeint war, stand auf und holte den Rollstuhl. Routiniert hievte sich Cosima hinauf, ruckelte etwas hin und her, glaubte die Puppe Ea vom Boden auf und rollte langsam hinaus, in den Regen. Atef folgte ihr, nachdem er die Taschenuhr verstaut hatte. Er atmete tief ein. Leichter Asphaltgeruch vom Regen, Erde, Pflanzen. Auch er trat durch den Flechtenvorhang.

Miral bürstete Vali ihre langen glatten Haare, die sie zweifellos von ihrem Vater geerbt hatte. Vali kniete vor ihm auf dem Holzboden und hatte ihren Kopf auf sein rechtes Knie gelegt, übers andere bürstete er ihr die Knoten aus den Spitzen. Mit Links. In der Schule hatte er diese Hand nicht benutzen dürfen. Besonders oft hingehen hatte er sowieso nicht können. Zur Zeit war sie ja ein Krankenlager.

Miral legte die Bürste aus der Hand und begann, an Valis Kopfhaut entlang zwei Zöpfe zu flechten. Sie starrte ins Leere an die Wand. Nach der Hälfte vom zweiten Zopf schlief sie ein, immernoch mit dem Kopf auf Mirals Knie. Er liebte seine Schwestern und vor Allem diese Tägliche Zeit mit Vali. Doch zur Zeit war sie immer müde und traurig. Sie litt mehr als alle anderen unter Yoshuas Tod. Miral zog den Zopfgummi fest und hob Vali hoch. Mitsamt ihren regennassen Kleidern legte er sie auf ihre gemeinsame Matratze. Als Vali heimgekommen war, hätte man mit dem Wasser aus ihren Haaren und Kleidern Eimer füllen können.

Miral war gerade dabei, ihr doch zimindest die kalte Bluse auszuziehen, als Mutter kam und mitteilte, heute sei auf der Krankenstation Samira gestorben, die alte Frau vier Häuser weiter. "Das Alter?", fragte Miral. Mit zusammen gekniffenen Lippen schüttelte Mutter den Kopf und antwortete leise:"Aids"

Sie arbeitete zum putzen im Gebäude und bekam solche Dinge schnell mit. Aids? Miral wusste, dass man sich damit nicht einfach so durch Berührung anstecken konnte, bekam aber trotzdem Angst. Angst vor einer tödlichen Krankheit. Wer wohl noch infiziert war? Zum Schluss wohl noch seine Familie? Geistes abwesend hängte er Valis Bluse über die Wäscheleine quer durch den Raum und zog ihre Decke höher.













Ich gebe es auf, keine Bemerkungen unter die Kapitel zu schreiben.
Ich bin zur Zeit im Urlaub, darunter könnte womöglich meine Rechtschreibung leiden. Tut mir Leid.
Das Lied, das Atef singt ist, falls sich jemand nicht mehr erinnern kann, aus Kapitel 11. Diese Strophe (die letzte übrigens) wurde allerdings noch nicht erwähnt.
Ich würde mich übrigens sehr über Feedback freuen!
Bis Bald, Bine

Drei ist mehr als nichtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt