5.

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Tiara stellte sich mir eines Tages einfach so vor. Sie lief an die Theke, hinter der ich stand und meine Kundschaft bediente. Es waren gut zwei Wochen vergangen, seit ich ihr am Eingang meinen Schirm geliehen hatte. Hatte sie mich vergessen?
Sie kam direkt vom Eingang aus auf mich zumarschiert ohne sich umzuschauen. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie klein sie eigentlich war. Mehr als anderthalb Meter maß sie bestimmt nicht und schöne rundliche Kurven wie sie die idealen Frauen auf den Werbeplakaten besaßen, waren an ihr höchstens angedeutet. Ihr Körper wirkte fast schon kindlich, aber zugleich strahlte sie diese majestätische Selbstsicherheit aus. Sie schien zu wissen, was sie wollte, erwachsen.
Ich schüttete den Café fast um, als ich dem Mann mir Gegenüber den Becher überreichte. Er grunzte mich an und ich entschuldigte mich hastig, ohne aber die Augen von ihr abzuwenden.
"Störe ich?", sprach sie mit ihrer warmen Stimme. Ich schüttelte den Kopf und entschuldigte mich bei den anstehenden Kunden, während ich meinem Arbeitskollegen andeutete, die Kasse kurz zu übernehmen.
Ich lief um die Theke herum.
"Kann ich Ihnen helfen?"
"Ich heiße Tiara und wollte mich für den Regenschirm bedanken. Ich habe ihn allerdings, so leichtsinnig wie ich bin, zuhause vergessen. Könnte ich Sie als Entschädigung zu einem Spaziergang heute Abend einladen und ihn Ihnen bei der Gelegenheit wiedergeben?"
Ihre Sprache klang so gehoben im Gegensatz zu ihrer Kleidung, wobei sie sich alle Mühe gegeben zu haben schien, etwas passendes zusammenzuwürfeln. Ich nickte vollkommen überfordert. Tiara lächelte.
"Und Sie heißen?"
"Tamara."
"Schöner Name."
"Danke, Ihrer auch."
Sie verabschiedete sich mit einer Umarmung, die den Abstand des Siezens zerfließen lies. Als kannten wir uns schon ewig. Mein ganzer Körper wurde von Adrenalin überflutet.

Ein zuckersüßer Sonnenstrahl kitzelt mich an der Nase und lässt mich niesen. Ich blinzele, öffne die Augen einen Spalt, nur um sie sodann wieder zu schließen. Zu hell. Ich sehe noch immer rosa-rote, blaue und grüne Punkte in meinen geschlossenen Lidern. Ich versuche meinen Körper zu strecken. Der Boden ist hart und jeder Zentimeter, jede einzelne Muskelfaser schmerzt bei der Bewegung. Mein Kopf dröhnt und mein Hals kratzt.
Wieder versuche ich, die Augen zu öffnen. Langsam, um mich an das Licht zu gewöhnen. Es ist gar nicht so hell. Morgens, die ersten Strahlen einer orangenen Kugel, die sich majestätisch über die Dächer der Häuserreihen erhebt.
Den Schmerz ignorierend, stemme ich mich auf meinen Ellen hoch und sehe mich um. Die Straßen sind noch immer Menschenleer, der Boden feucht. Eine einsame Katze streift durch die Gegend und schlängelt sich an den Hauswänden entlang, bewegt den Kopf so, als würde sie sich am Beton kratzen. Als sie mich entdeckt, miaut sie lange und fängt an in meine Richtung zu kommen. Ich wende den Blick ab.
Der Himmel ist blaugrau, ein paar vereinzelte Wolken tummeln sich, spielen miteinander. Ich kann einen Fisch erkennen. Einen Drachen. Eine Blume.
Meine Stimmung verdüstert sich. Ich darf nicht an sie denken, an früher, an Nachmittage auf der Wiese, an das Picknicken, an das Lachen und an das In-den-Himmel-schauen-und-Formen-in-den-Wolken-suchen. Ich darf nicht. Ich muss einen Ort finden, wo ich essen und schlafen kann. Bekannte suchen. Freunde ...

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Where stories live. Discover now