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Ich sitze auf dem Sofa im Wohnzimmer, nachdem ich mich satt und glücklich gegessen habe an dem, was Tiara freundlicherweise für mich gekocht hat. Sie sitzt neben mir und untersucht meine geschwollene Augenbraue, tupft eine grüngelbe Creme mit einem Wattepatt auf. Ich spüre ihre Nähe, ihre Wärme und auf meinen Armen bildet sich Gänsehaut.
"Tiara?"
"Mhm?", murmelt sie konzentriert.
"Was ist dann passiert?"
"Wann?"
"Nachdem ich ins Gefängnis kam? Was ist mit dir passiert? Was ist mit den ganzen anderen passiert? Was ist mit dieser Stadt passiert?"
Ohne den Blick von ihren flinken Händen und meiner Augenbraue zu heben, beginnt sie erneut zu erzählen.
Sie wurde am selben Tag noch ins Gefängnis eingeliefert, hat zwei grauenvolle Wochen dort erlebt, bis man sie in die Arme ihres besten Freundes schickte. Kylian sei Anwalt, erklärt sie. Er habe die ganze Zeit schon gewusst, dass sie lesbisch ist, obwohl sie es ihm nie gesagt hat. Er habe sie rausgeholt mit dem Versprechen, sie zu heiraten und von dem "falschen Weg" abzubringen. Tiara willigte ein und sie heirateten ohne große Zeremonie.
"Ich habe ihn tausend mal angebettelt, dich auch zu befreien, aber er hat es nicht geschafft, obwohl er es wirklich versucht hat. Er hat sogar einen Freund gefunden, der sich bereiterklärt hätte, dich zu heiraten. Es hat nichts gebracht."
Sie hält kurz inne, während sie den Verband auspackt und fährt fort. Derweilen rollt sie einen weißen Verband um meinen Kopf und meine rechte Augenbraue.
"Die Seuche kam ein paar Jahre später und die Hälfte der Stadt ist dabei ums Leben gekommen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir es so lange in diesen schlechten Umständen ausgehalten haben, ohne eine Krankheit anzulocken. Es musste irgendwann passieren."
Viele ihrer und meiner Freunde sind dabei ums Leben gekommen, soweit sie weiß. Andere sind geflohen oder ausgezogen, erklärt sie, als ich sie frage, weshalb man im Rathaus keinen einzigen Namen meiner Freunde kannte.
"Vielleicht sind auch einige noch hier, nur unter einem anderen Namen. Ich weiß es nicht."
Sie erzählt, nach der Seuchenbekämpfung, habe sich die Stadt in Rekordgeschwindigkeit neu erbauen lassen. Ordnung und Sauberkeit seien höchste Priorität geworden und der neugewählte Staat habe dafür gesorgt, dass jeder Bewohner kostenlos ein Haus und ausreichende Lebensmittel bekäme. Wer mehr wollte, als das Minimum musste natürlich arbeiten.
"Die Gesetzesänderung was uns angeht, kam allerdings erst Jahre später und bis man alle Verurteilten und Gefangenen ausfindig gemacht hat, dauert es sicher noch ewig. Ich bin wirklich froh, dass du endlich frei bist."
Ich nicke und sie schimpft, weil ich mich nicht bewegen soll.
"Ich denke, sobald es mit den Befreiungen etwas geregelter ist, wirst du auch eine Wohnung und die freien Essensrationen zugeteilt bekommen. Derweilen darfst du gerne hier bleiben." Sie lächelt und diesmal erwidere ich es.
"Was ist aus meinem Café geworden?"
Tiara seufzt. "Ein Hochhaus. Und ich denke nicht, dass sie sich darum geschert haben, deinen Besitz zu verschonen. Es tut mit leid."
Das dachte ich mir, obwohl ich dennoch einen Stich im Herzen fühle. Keine Eltern. Keinen einzigen Besitz. Keine Freunde - halt, doch. Tiara - oder?
"Und - und wenn ich hier bleibe, stört das Kylian nicht?" Ehemann ist ein schlimmes Wort. Ein sehr schlimmes.
Sie klemmt das Verbandende mit einer Klammer an den restlichen Verband und schaut mich verwundert an.

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Where stories live. Discover now