11.

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"W-wieso?", stammelte ich nach dem ersten Schockmoment. Bitte was?
"Weil ich anders bin. Ich bin so wie du. Ich ... liebe die falschen Menschen."
Plötzlich verstand ich es. Verstand sie.
Sie redete nun in einem Schwall fort: "Ich bin lesbisch. Ich bin schon immer so gewesen und werde es immer sein und im Gegensatz zu dem, was meine Eltern glauben, habe ich mich nicht dafür entschieden. Als ich zum ersten Mal mit einer Freundin - einer festen - nach Hause kam und wir uns vor ihnen geküsst haben ... Meine Mutter hat angefangen loszuschreien und mich zur Hölle gejagt, während mein Vater schweigend daneben gestanden hat. Er hat nichts gesagt, als ich meine Tasche gepackt habe und gegangen bin." Sie hielt kurz inne, vielleicht noch in Gedanken an den Moment, der ihr Leben auf den Kopf stellte.
"Ich habe ihnen vertraut. Ich dachte, wenn mich irgendjemand versteht, dann doch meine eigenen Eltern. Ich habe mich getäuscht."
"Das ... tut mir leid." Was sollte ich sonst sagen? Dass meine Eltern nichts davon wussten und es von mir aus auch niemals erfahren würden, weil ich genau wusste, wie sie reagieren würden? Genau so, wie der Rest dieser verdammten Gesellschaft. Der Krieg hatte scheinbar jeden rationalen Gedanken zerstört. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass diese Verachtung uns gegenüber schon immer da gewesen war.
"Seitdem habe ich entschieden, dass es mir egal ist", fuhr sie fort. Ihre Augen hatten wieder diese leuchtende Kraft und zugleich diese Weisheit desjenigen, der zu viel gesehen hat.
"Es ist mir egal, was sie von mir denken. Was die Gesellschaft verbietet. Es ist mein Leben und es sind meine Gefühle und daran wird sich niemals etwas ändern. Und wenn ich von ihnen getötet werde dafür, dass ich dich liebe ..."
Mein Herz hielt an, während mein Blick von ihren blaugrauen Augen gefesselt wurden. Von der Ernsthaftigkeit, hinter der jeder Schmerz, jeder Kampf, jede Angst und jedes erfahrene Glück Tiaras glänzte.
dafür, dass ich dich liebe ...
dass ich die liebe ...
ich dich liebe ...
liebe ...
- wieder und wieder huschten die Sätze durch meine Gedanken, mal mit ihrer rauen, tiefen Stimme, mal mit meiner eigenen Stimme, als könnte ich nicht glauben, was ich gehört hatte. Ich konnte es nicht glauben.
Das war der Moment, an dem ich hätte sagen sollen, ich liebe sie. An dem ich hätte zurücklächeln sollen. Der Moment, an dem ich ihr hätte zeigen sollen, dass sie einen Menschen gefunden hatte, der sie nicht im Stich lassen würde. Niemals.
Aber meine Lippen blieben versiegelt und als sie den Blick abwendete, war es zu spät. Der Moment war verflogen wie ein Schmetterling, nach dem man mit dem Netz greift um dann zu merken, dass das kleine Lebewesen schneller ist als man selbst. Schön und schnell.
Ich war zu langsam. Zu langsam.

Das Gefühl, verraten worden zu sein mischt sich mit der Eifersucht, die ich noch immer nicht nachvollziehen kann. Wieso liebe ich sie noch? Wieso verzeihe ich ihr? Verzeihe ich ihr überhaupt? Liebe ich sie überhaupt noch oder nur ihre Erinnerung?
Die Tür vor mir ist nicht nur eine einfache weiße Tür in einer Straße weißer Türen. Sie ist die Tür zu meiner Vergangenheit ... Und vielleicht die Tür in meine Zukunft.
Ich hole den Brief erneut aus meiner Tasche. Lese ihn nochmal und nochmal. Diese paar Zeilen, die kaum Worte beinhalten und mir dennoch so vieles sagen. Sie lebt hier. Sie ist wirklich aus dem Gefängnis gekommen. Sie bietet mir ihre Hilfe an, nach allem, was sie gesagt und getan hat.
Ich zerknülle in einem Frustseufzer den Zettel und räume ihn in die Tasche, bevor ich wieder zur Tür laufe und meinen Finger vor die Klingel halte. Die Fingerkuppe meines linken Zeigefingers schwebt über dem winzigen, silbernen Knopf, verweilt dort einige Sekunden. Die Zeit, die ich benötige, um mich selbst zu überzeugen. Die Zeit, die ich benötige, um eine Schutzmauer zu erbauen, die meine Gefühle in den Hintergrund sperrt.
Ich klingle.
Eine andere Möglichkeit bleibt mir nicht.

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Where stories live. Discover now