Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.

9.

Es tut mit Leid, aber ich schaffe es nicht, dich abzuholen. Können wir uns um 20:00 im Park treffen?
Der Park war der einzige Ort, der nach dem Krieg, dessen Ende ich mit 5 Jahren erlebt hatte und an den meine Erinnerungen nur begrenzt ausreichten, verschont geblieben war. Ein kleiner, ruhiger Ort mit Wiesen und Bäumen und Bänken und Mülleimern, die im Gegensatz zum Rest der Stadt wirklich benutzt wurden. Es scheint, die Menschen gäben sich mehr Mühe einen schönen, sauberen Ort sauber zu halten und scherten sich nicht darum, die Ruinen einer Stadt angenehmer zu gestalten.
Ich faltete den Zettel in meiner Hand zusammen und warf einen Blick auf die Uhr: Zehn vor. Ich bedankte mich bei der Kundin, die mir den Zettel überreicht hatte - es war angeblich eine Freundin von Tiara - und gab meinem Kollegen bescheid, er solle sich heute um die Schließung des Cafés kümmern, weil ich ... anderweitig beschäftigt sei.
Ohne viel Zeit zu verlieren, warf ich mir meine Handtasche um und stürmte aus der Tür. Die Sonne warf ein angenehmes Abendlicht auf das zerbröckelnde Asphalt der Straße und ich achtete bei jedem Schritt in Richtung Park, dass ich in keines der Löcher stolperte.
Ich erreichte das schmiedeeiserne, leicht verrostete Eingangstor und betrat den schmalen Kiesweg zwischen den Rasenflächen. Ich musste kaum zwei Meter laufen, bevor ich sie auf der nächsten Parkbank entdeckte. Oder zumindest meinen geöffneten Regenschirm.
Ich konnte ihre Umrisse - ihren Schatten - in dem dunkelblauen Schirm erkennen und lief langsam zu ihr, mein Herz um das Doppelte seiner Geschwindigkeit gesteigert.
Sie drehte sich nicht um, als ich direkt neben ihr stand und horchte erst auf, als ich sie fragte, ob der Platz neben ihr frei sei.

Die Frau am Schalter überreicht mir einen Briefumschlag, der an mich adressiert zu sein scheint. Ich bedanke mich zögernd und verabschiede mich, während ich ihn in meine Tasche stecke.
Im Wartezimmer hängt eine Stadtkarte, wo ich mich orientiere und nach irgendetwas bekanntem suche. Wo habe ich gewohnt? Wo ist mein Café? Das Rathaus ist mein einziger Orientierungspunkt. Nicht einmal den Stadtpark haben sie so gelassen, wie er war. Ich zögere, als ich den Ort ausfindig gemacht habe, wo früher mein Café gestanden haben sollte. Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe zwei Möglichkeiten. Entweder ich laufe dort hin und hoffe auf die unwahrscheinliche Aussicht, dort mein Eigentum zu finden. Oder ich öffne den Brief, vor dem ich mich fast so sehr fürchte, wie vor der Erinnerung die er aus dem tiefen Grab meines Gedächtnisses herauszukitzeln versucht.
Egal. Ich habe eigentlich keine Wahl.
Ich setze mich auf die Treppen, die zum Rathaus führen und ziehe den Brief aus der Tasche.

Ich bin froh, dass du endlich aus dem Gefängnis entkommen bist und meinen Brief erhalten hast. Ich war mir nicht sicher, wie ich ihn dir übergeben sollte. Wenn du meine Hilfe brauchst, hier ist meine Adresse.

Darunter steht in Druckbuchstaben eine Adresse und ihr Vorname. Als ich am Ende des Briefes angekommen bin, lasse ich endlich die ganze angehaltene Luft heraus und atme wieder tief ein.
Tiara lebt hier in der Stadt. Zwei Häuserblocks von mir entfernt, wenn die Zählweise dieser Blocks, die schließlich die Adressen ausmachen, stimmt.
Zwei Blocks von mir entfernt lebt das Mädchen, dass mir gezeigt hat, wie schön es sein kann, ich selbst zu sein. Das Mädchen, dass mir gezeigt hat, dass es keine Straftat ist, lesbisch zu sein. Das Mädchen, dass ich mehr liebe als mich selbst und zugleich mehr hasse, als alles andere. Nicht, weil sie mich verraten hat und ich ihretwegen ins Gefängnis kam - anders kann ich es mir nicht erklären. Sondern weil sie mich - uns - betrogen und verleugnet hat.
Zwei Blocks. Wobei, nein. Zwei Blocks und 20 Jahre entfernt.

Ich stehe vor einer von tausenden weißen Haustüren. Nichts daran unterscheidet sie von den anderen. Nichts außer der silbernen Hausnummer neben dem Briefkasten und dem winzigen Klingelschild. Als ich den Namen lese, sinkt mein Magen in meine Knie. Nicht das. Nicht auch noch das.
Statt Tiara Vérité steht dort in Großbuchstaben Tiara und Kylian Dörre.
Sie ist verheiratet. Mit ihrem besten Freund.