19.

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Sie bringt mir ein frisches Glas Orangensaft und ich lasse mir dessen Süße auf der Zunge zergehen. Himmlisch. Es fühlt sich an, als hätte ich nie in meinem Leben, etwas besseres getrunken, als diesen einen Saft. Ich trinke daraufhin gleich noch zwei weitere Gläser leer, bevor ich ihr zurück ins Esszimmer folge und von dort aus die Treppe hoch.
Am unteren Ende ziehe ich noch meine leichten Schuhe aus, die ich in der Eile vorhin vergessen habe und hänge meine Handtasche an einen Kleiderhacken.
Tiara führt mich die weiche Treppe aus hellem Holz hoch und durch einen mit bunter Tapete geschmückten Flur. Die zweite Tür rechts steht offen und als wir vorbei gehen, kann ich in ein Schlafzimmer mit Doppelbett schauen. Mein Magen rumort.
Einfach nicht daran denken. Nicht dran denken! - ermahne ich mich und laufe weiter. Ich schiebe den Gedanken beiseite, dass sie verheiratet ist und unterdrücke die Eifersucht.
Ein paar Meter weiter bleibt Tiara stehen und deutet links auf eine grasgrüne Tür mir dem Schild "frei".
"Unser Schlosssystem innerhalb des Hauses ist vor ein paar Tagen durchgegangen, also habe ich selbst ein Schild gebastelt. Auf der Rückseite steht besetzt." Sie grinst und ich muss die Art bewundern, wie sie einfach so von schweren zu einfachen Themen wechseln kann, ihre Stimmung so schnell glücklich wie traurig.
"Manchmal wünsche ich mir doch die Einfachheit der Farm zurück -"
Wieder ein Wechsel, ihre Augen starren auf einen Punkt hinter mir, als schwelge sie in Erinnerung. Vielleicht hat sie sich doch verändert. Ganz so sprunghaft war sie früher nicht - glaube ich.
Ich versuche zu lächeln und deute auf die Badezimmertür.
"Da rein?"
Sie zuckt zusammen, als hätte ich sie erschreckt und nickt.
"Du findest im halbdurchsichtigen Glasschrank Badetücher. Nimm dir so viele wie du brauchst. Schampoo und Seife gibt es in der Dusche und ich kann gleich mal versuchen etwas zu finden, was dir passen könnte. Ich bin leider immer noch etwas kleiner ..."
Ich nicke dankbar. Diese Dusche wird unglaublich gut tun und sei das Bad noch so schäbig.
In Wirklichkeit ist es dabei noch tausend Mal besser als erwartet. Das riesige Badezimmer, in das ich eintrete, während Tiara nach Kleidung sucht, ist vollkommen rot gestrichen und so sauber, dass der Kachelboden schon fast glänzt. Es ist kein aggressives blutrot, sondern das weiche orange-rot eines Sonnenuntergangs. Tiara scheint noch immer Romantikerin zu sein - über die andere Möglichkeit, dass ihr bester Freund (ja, ich weigere mich Ehemann zu sagen) die Farbe ausgesucht  hat, denke ich gar nicht erst nach.
Ich habe keine Ahnung, wo genau das helle Licht herkommt, aber die Decke leuchtet in einem weichen, gelben Licht. An den Wänden stehen verschiedene weiße Möbel und ein Glasschrank. Ich vermute, dort befinden sich die Badetücher und öffne die obere Schranktür. Tatsächlich. Bade- und Handtücher in allen Farben und mit allen Mustern liegen ordentlich aufeinander gestapelt. Ich nehme mir das oberste, ein großes, türkisfarbenes Badetuch, auf das weiße Eisblumen gestickt wurden und laufe zur Dusche, die neben der Toilette und dem doppelten Waschbecken als einziges wirklich zu einem Badezimmer gehört - meiner Meinung nach.
Ich streife die einteilige Uniform ab und ziehe die schwarze, eintönige Unterwäsche aus. Die großen Spiegel über den Waschbecken zeigen mir meinen erschreckend dünnen Körper. Es sieht aus, als sei über meine Knochen und Rippen nur eine hauchdünne Fett- und Muskelschicht und darüber meine durchscheinende, weiße Haut gespannt worden. Ich sehe aus wie ein Gespenst oder ein wieder auferstandenes Kadaver. Ich ekele mich ja fast vor mir selbst, vor diesen eingesunkenen Wangen und den dunklen Augen, die mir entgegen starren. Meine Augenbraue ist noch angeschwollener, als ich dachte und überall auf meiner nackten Haut sind blaue Flecken und Narben verteilt.

*****

Ich dachte, ich belohne mal meine zurzeit fleißigsten Leser und Kommentierer, also widme ich dieses Kapitel heute an @memory4u (Danke für deine Kommentare unter fast jedem Kapitel, das ist so schön zu wissen, dass ich nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere schreibe, die das vielleicht sogar noch mehr berührt als mich! Danke!) und an Sophie2605 (auch für deine regelmäßigen Kommentare und das Lesen und die schönen anregenden Gespräche bei den Kommentaren deiner Bücher, selbst wenn ich nicht immer daran teilnehme).

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Where stories live. Discover now