Sechzehn

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Die Skogamor waren Wesen, über die es viele Geschichten gab. Trotzdem wusste man nur wenig über sie. Es gab nur sehr wenige von ihnen und niemand hatte jemals eine zu Gesicht bekommen, zumindest erinnerte sich niemand daran. Skogamor hieß soviel wie Waldmutter, und genau das waren sie: Jeder große, dunkle Wald hatte eine. Sie waren die Herrscher des Waldes und jedes Wesen des Waldes musste ihnen gehorchen. Außerdem waren sie grausam. Sie führte Menschen, die ihren Wald betraten, in die Irre.
Die Geschichte, die jedoch am meisten erzählt wurde, war die über die Geburt einer Skogamor. Wenn ein junger Mann einen Wald betrat, der unter der Herrschaft einer Skogamor stand, und von ihr in die Irre geleitet wurde, dann würde sich die Skogamor ihm in Gestalt einer jungen, hübschen Frau zeigen. Sie würde ihn verführen und er ihr willenlos verfallen. Dann würde sie das Lager mit ihm teilen und nach einer langen, wilden Nacht würde sie den Samen des Mannes vergiftet haben. Das nächste Kind, welches er zeugen würde, würde kein normales Kind sein. Es würde ein Mädchen sein, stärker und hübscher als die anderen Mädchen, und sein Körper würde schnell reifen.
Der Mann würde sich jedoch nicht an die Nacht mit der Skogamor erinnern. Wenn die Skogamor, die den Samen des Mannes vergiftet hatte, alt und schwach war und im Sterben lag würde dass Mädchen an dem Tag, an dem es sechzen Winter alt würde, in den Wald verschwinden und das Erbe der alten Skogamor antreten. War dies nicht der Fall, so würde es zu einer ungewöhnlich hübschen Frau werden, jedoch unfruchtbar bleiben.
Wurde es zur Skogamor, so würde die Gestalt, die sie an ihrem sechzehnten Geburtstag hatte, diejenige sein, in der sie Männer verführen würde.

Freja war einige Zeit von Baum zu Baum durch den Wald gereist, als plötzlich etwas an ihr Ohr drang. Ein leises Rauschen und klingeln, überlagert von einer leisen, ätherischen Melodie. Die Melodie berührte etwas in ihr...
Und plötzlich kam ihr das disharmonische Lied des Eisenwaldes unheimlich vor. Fast angeekelt streckte sie die Hand nach dem Baum neben sich auf und tauchte am Rand des dunklen Bezirkes des Waldes auf. Sie schüttelte die Gestalt der Skogamor ab wie eklige Spinnen und begann, am ganzen Körper zu zittern. Das Dunkle in ihr warf sich umher und Freja versuchte, es niederzuringen. Sie brach in Schweiß aus, während der Kampf gegen sich selbst in ihr tobte. Doch die Melodie der Aurora half ihr und sie legte dem Dunkel seine Ketten wieder an.
Was war mit ihr los gewesen?
Sie beugte sich vornüber und übergab sich. Sie hatte das Gefühl, ihr ganzer Körper wäre dreckig, auf eine Art, die sich nicht mit Wasser und Seife reinigen ließ. Verstört und angeekelt von sich selbst stolperte sie nach Hause.
Etwas schreckliches bahnte sich an, das spürte sie. Morgen würde sie sechzehn werden...
Die Geschichten... Sie wusste, dass sie wahr waren. Sie spürte es in der Sehnsucht, die sie nahezu verzehrte. Die Sehnsucht nach dem Järnskogen.

Die Sehnsucht nach der Finsternis.

Morgen würde sich ihr Leben für immer verändern.
Und sie fand es nicht einmal schlimm.

Alma schlief, als Freja nach Hause kam. Sie wusste, dass es besser so war. Eine Begegnung mit Alma hätte ihr jetzt nicht gut getan. Sie zog sich aus und rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Sie wollte vergessen. Sie wollte nicht einsehen, was sie war.
Während sie sich vor sich selbst ekelte sang die Aurora sie in den Schlaf.

"Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz"
Freja spürte, wie ihr jemand über die Wange strich. Sie öffnete die Augen und kurz erhellte ein silbriger Blitz das Zimmer. Alma saß an ihrem Bett und hatte ein Tablett auf dem Schoß. Was machte sie hier? Sie sollte sie in Ruhe lassen. Sie machte Freja Angst.
Besser gesagt, die vollkommene Abwesenheit von Gefühlen für sie machte Freja Angst.
"Ich habe dir Frühstück gemacht", sagte Alma vorsichtig. Freja sah Sorge und mühsam verhohlene Angst in ihren Augen. Sie wusste Bescheid.
Freja setzte sich auf und murmelte ein Danke. Auch wenn sie für Alma nichts mehr empfand konnte sie ja trotzdem das Frühstück annehmen.

Nach dem Frühstück ging sie mit Alma nach unten in die Wohnstube dort lag, ordentlich zusammengelegt, ein wunderschönes, grün - braunes Kleid. Als Freja es sah, kamen ihr fast die Tränen. Alma hatte es wahrscheinlich selbst gemacht und sich so viel Mühe gegeben, doch Freja konnte ihre Liebe nicht mehr erwidern. Sie zog es trotzdem an, und sie sah wunderschön darin aus.
So wirst du jetzt für den Rest deines Lebens aussehen, flüsterte eine leise, böse Stimme tief in ihrem Inneren.

Den ganzen Tag herrschte eine seltsame Atmosphäre in der kleinen Hütte am Rande des Eisenwaldes. Alma behandelte Freja als wäre sie aus Porzellan und ihre Sorge stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Freja hingegen fühlte sich von Stunde zu Stunde unruhiger. Sie konnte so nicht weitermachen. Sie konnte nicht weiter in diesem fremden Haus leben. Sie fühlte sich eingesperrt, als hätte sie ihr ganzes Leben in einem fernen Land, weit weg von Zuhause verbracht.

So wurde es Abend. Freja saß am Fenster und starrte in die Dunkelheit, und die Stimmung wurde immer unruhiger und angespannter. Alma redete mit ihr, doch sie hörte ihr nicht zu. Sie spürte, wie die Sehnsucht in ihrem Herzen wuchs. Sie sehnte sich so sehr nach dem Wald. Nach dem Dunklen. Nach dem finsteren Lied des Järnskogen, welches sie erfüllt hatte.
Irgendwann spürte sie, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie konnte nicht mehr.

"Ich will nach Hause", flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

Die Zeit war gekommen.

Freja stand auf.

Ihre Augen leuchteten silbrig.


The Changeling - Die Magie des WaldesWhere stories live. Discover now