Die letzte Begegnung

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Als Freja erwachte stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie hatte vollkommen traumlos geschlafen, was seltsam war. Eigentlich hatte sie kaum mehr geschlafen, seit sie vollkommen geworden war. Eine Skogamor brauchte keinen Schlaf. Sie konnte die Energie der Bäume in sich aufnehmen und ihr Körper wurde nicht müde. Warum also hatte sie geschlafen? Sie erinnerte sich nicht. Ärgerlich schnaubte Freja und sprang auf. Sie war nur wenige Schritte von ihrem Thron entfernt und die Bäume, die ihn umgaben, schwankten in ihrem Zorn wie in einem schweren Sturm.
Freja hasste es, etwas nicht  zu wissen. Warum konnte sie sich nicht erinnern?

Nachdem sie ein Kind, dass nahe des Waldrandes auf einen Baum geklettert war, zu Tode hatte stürzen lassen und zufrieden seine verdrehten Glieder betrachtet hatte, war ihr Zorn größtenteils verraucht. Sie spürte, wie sich die Kraft des Järnskogen wieder in ihr ausbreitete.
Während sie in den Wald zurück lief summte sie sein schauriges Lied vor sich hin.


Alma war nun schon über eine Woche im Järnskogen unterwegs. Mittlerweile war es vor allem Nachts eiskalt und als Alma diesen Morgen aufgewacht war, war ihr Lager von einer dünnen Schneeschicht bedeckt gewesen. Außerhalb des Waldes lagen bestimmt schon mehrere Fingerbreit Schnee.
Die Kälte bekam ihr nicht. Diesen Morgen hatte sie einen schlimmen Hustenanfall bekommen und als er endlich vorbei gewesen war, hatte sie Blutspritzer im Schnee vor sich entdeckt. Lange würde sie nicht durchhalten. Aber das war egal. Wenn sie starb, bevor sie Freja fand, würde sie wenigstens nicht ansehen müssen, was aus ihrer kleinen Tochter geworden war.

Nun zog sie weiter durch den Wald, immer tiefer in die dunklen Weiten des Eisenwaldes hinein, seinem Zentrum entgegen. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dort ihre Tochter - oder das, was von ihr übrig geblieben war - finden würde. Lange konnte es nichtmehr dauern, bis sie dort ankam. Der Järnskogen war groß, doch ihre Hütte lag an einer der schmalsten Stellen des Waldes nahe der Mitte. In den nächsten zwei Tagen würde sie dort ankommen. Dann würde sich zeigen, ob ihre Annahme richtig war. Dann würde sie Freja wiedersehen.


Freja erkundete grade die Regionen ihres Waldes, die in der Nähe von Asgard lagen, als sie etwas spürte, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Da war ein Mensch, mitten im Wald, nur eine Tagesreise von ihrem Thron entfernt! Wie hatte sie den nicht bemerken können?
Esssshh passsshhierrrrt viel im Järrrrrnssssshhkogen, Meisssshhterrrrin.
Da hatte der Wald recht. Selbst mit den übermenschlichen Sinnen einer Skogamor war es unmöglich, alles zu bemerken. Außerdem war es doch eigentlich egal! Es machte viel mehr Spaß, jemanden in die Irre zu führen, der sich sicher wähnte, als jemanden der von vorne herein damit rechnet.
Frejas Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen und entblößten ihre spitzen, silbrigen Zähne. Sie legte ihre Hand auf den Stamm des Baumes neben sich und verschwand.


Es war Mittag, als Alma plötzlich aus dem Augenwinkel einen kurzen Lichtblitz wahrnahm, gefolgt von einem Rascheln. Sie erstarrte. Helles Licht, mitten in den Tiefen des Järnskogen. Hier stimmte etwas nicht. 
"Es sieht so aus als hätte ich mein Ziel erreicht", flüsterte sie.
Dann holte sie tief Luft und rief etwas in den Wald.


"Freja? Komm heraus! Bitte!"
Freja erstarrte. Wie konnte das sein? Wie konnte irgendjemand sie bemerken? Wie konnte jemand ihren Namen wissen? Und warum kam ihr diese Stimme so bekannt vor? Sie wob einen Zauber in das Lied des Järnskogen und spürte, wie die Kraft des Waldes in sie überging. Plötzlich schäfte sich ihre Sicht und sie konnte die Gestalt besser erkennen, die da in einiger Entfernung zwischen den Bäumen stand. Zischend sog sie die Luft ein. Sie kannte diesen Menschen! Das war die Menschenfrau die sie aufgezogen hatte! Freja spürte, wie sich tief in ihrem Inneren der Teil von ihr, der die Tochter dieser Frau gewesen war, gegen seine Fesseln stemmte. Ohne es zu wollen machte sie einen Schritt nach vorne. Und noch einen. Und noch einen.
Schließlich stand sie direkt hinter der Frau. Freja räusperte sich leise. Die Frau zuckte zusammen und fuhr herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie Freja erblickte, und Angst breitete sich in ihrem hübschen Gesicht aus. Freja grinste und sog den Geruch der Angst tief in sich ein. Doch ein kleiner Teil von ihr zuckte unter diesem Blick zusammen. Und für ein paar Augenblicke wurden die Gefühle dieses Teils so stark, dass er die Überhand gewann.


Alma starrte angsterfüllte die große Gestalt an, die vor ihr aufragte. Ein schreckliches Grinsen zierte ihr graues Gesicht, das von nachtschwarzen Haaren eingerahmt wurde. In ihrem Mund glitzerten silbrig spitze Zähne. In ihrer Stirn schimmerte ein pechschwarzer Edelstein, in dem etwas glitzerte wie die die Sterne am Nachthimmel.
"Freja?", flüsterte sie und Tränen rangen über ihre Wangen.
"Was ist nur aus dir geworden..."
Dann schüttelte sie ein Hustenanfall. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Gestalt der Skogamor flimmerte und sie meinte, rote Haare aufblitzen zu sehen.


Freja war schockiert über den Zustand ihrer Mutter. Sie kauerte im Schnee, abgemagert und bleich, hustend und Blut spuckend. Freja versuchte verzweifelt, die Gestalt der Skogamor abzuschütteln, doch diese war zu stark. Sie würde bald wieder die Kontrolle übernehmen.
"Mutter...", flüsterte sie mit heiserer Stimme.
"Es tut mir so Leid..."
Alma hörte auf zu husten und blickte auf, sah Freja in die Augen. Ihr Mund war blutverschmiert und in ihren Augen stand tiefe Trauer.
"Freja, mein Kind...", sagte sie sanft und traurig.
Die Skogamor in Freja rumorte. Schon spürte Freja, wie sich düstere Gedanken in den Vordergrund schoben. Verzweifelt versuchte sie, sie zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht.
"Lebe wohl, Mutter", flüsterte sie mit letzter Kraft. Eine einzelne schwarze Träne lief über ihre Wange und färbte den Schnee auf dem Boden grau.


Alma zitterte. Ihr war kalt. So kalt.
Doch als sie die schwarze Träne sah, die über das Gesicht der Skogamor rollte, vergaß sie das alles. Das da vor ihr war ihre Tochter. Ihre Freja. Sie war noch einmal zurückgekommen. Und sie hatte sich verabschiedet. Alma schluchzte.
"Lebe wohl, mein Schatz"
"Ich bin nicht dein Schatz!", zischte die Skogamor.
Ihre Stimme troff vor Verachtung. Licht brach aus ihrer Haut hervor und Nebel umfloss sie und Alma. Alma spürte, wie sie in die Luft gehoben wurde und näher an die Skogamor heran schwebte. Schließlich befand sich ihr Gesicht auf derselben Höhe wie das der Skogamor. In ihren silbrigen Augen loderten Zorn, Verachtung und pure Bosheit. Sie öffnete den Mund und stimmte ein Lied an.
Es klang schaurig, war voller Dissonanzen und die Wörter waren in einer Sprache, die Alma nie zuvor gehört hatte. Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch ihre Eingeweide und sie krümmte sich in der Luft zusammen. Ihr Schrei vermischte sich mit dem Lachen der Skogamor. Erneut schüttelte sie ein Hustenanfall und sie spürte, dass ihr Blut aus Nase und Ohren rann. Der Schmerz nahm immer weiter zu und ihre Sicht wurde rötlich. Sie weinte Blut. Ihr Herz raste und stieß schmerzhaft gegen ihren Brustkorb. Sie hörte ein reißendes Geräusch und spürte, wie ihre Haut an mehren Stellen aufplatzte. Ein letztes Mal bäumte sie sich auf. Dann kroch ein roter Nebel über die Ränder ihrer Wahrnehmung. Das letzte was sie hörte war das boshafte Lachen der Skogamor.

Plötzlich verstummte es. Die Schmerzen wichen. Alma schlug die Augen auf und sah sich um. Sie befand sich vor dem Tor einer gigantischen Burg. Das Tor öffnete sich und eine Gestalt schritt auf sie zu. Es war ein hoch gewachsener, alter Mann, der trotz seines Alters Kraft und Macht ausstrahlte. Sein linkes Auge wurde von einer Augenklappe verdeckt und auf seinen Schultern saß je ein Rabe.
"Willkommen zurück, meine Liebe.", sagte er.
"Willkommen in Asgard. Wärest du so freundlich mich nach Valhalla zu begleiten? Die Walküren warten schon auf dich, sie wollten dich schon immer kennen lernen. Alma, der Mensch der den Göttern Mjölnir zurückgab. Erinnerst du dich?"
Alma erinnerte sich. Und sie wusste, dass sie diesmal Asgard nicht wieder verlassen musste.
Sie ergriff die Hand, die Odin ihr anbot, und betrat die Götterburg.



The Changeling - Die Magie des WaldesWhere stories live. Discover now