28.Kapitel

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Langsam pirschten wir uns an Thomas an, um ihn ein wenig zu erschrecken, wie wir es früher oft getan hatten...
Thomas erschrak mehr als wir erwartet hatten. Wie ein verschrecktes Tier sprang er von seiner Decke auf und zückte ein Messer, das in seinem Gürtel gesteckt hatte.

"Thomas wir sind es nur" flüsterte Anna mit leiser Stimme und versuchte ihn zu beruhigen. Verlegen und vor sich hin murmelnd steckte er sein Messer zurück in den Gürtel.
"Clara ist gekommen um uns zu besuchen" erklärte Anna und lächelte Thomas zu.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete mich Thomas. "Du hast dich verändert" stellte er fest und hob seine alte Wolldecke vom Boden auf. Erst in diesem Moment fiel mein Blick auf sein Bein, oder besser gesagt auf das was davon noch übrig war. Ab dem Knie trug er eine Holzprothese, die unter dem Hosenbein hervor lugte.

Thomas war ganz anders als ich ihn in Erinnerung hatte. Er war abgemagert und sein Gesicht wirkte ausgezehrt und traurig. Von dem Lebenslustigen jungen Mann war nicht mehr viel übrig geblieben.

"Du bist unbeschreiblich hübsch geworden" flüsterte Thomas als wir zum Haus zurückkehrten. Ich fühlte mich beschämt, da ich sein Kompliment nicht erwiedern konnte.

"Wie geht es dir" fragte ich vorsichtig nach. Thomas zuckte die Schultern und warf mir einen Blick zu der sagte: du kannst doch sehen, dass es mir nicht gut geht. Also warum fragst du noch?!"

"Was wurde aus Thomas" fragte Charlotte und nahm einen Schluck Tee aus ihrer Tasse. Auch ich nahm einen großen Schluck aus meiner kleinen Porzellantasse, denn mein Hals war vom vielen erzählen ganz kratzig geworden. Der Earl Grey Tee mit Milch hatte ein wundervolles Aroma und wie alle Engländer liebte ich meinen Tee...

"Thomas war zu dieser Zeit ziemlich verängstigt, betrübt und der Lebensmut fehlte ihm fast vollkommen. Doch irgendwann lernte er eine junge Lehrerin kennen und verliebte sich in sie. Und von da an, hatte sein Leben wieder einen Sinn.
Er heiratete sie und übernahm mit ihr gemeinsam den Hof meiner Eltern. Und sie hatten ein sehr glückliches Leben..."

"Das klingt fast wie aus einem Märchen" schwärmte Charlotte. "Das stimmt" murmelte ich abwesend. Denn auch mein Leben war verlaufen wie ein Märchen... Ein bisschen wie bei Aschenputtel...

"Können wir vielleicht morgen weiter sprechen" bat ich Charlotte, den mein Hals hörte gar nicht mehr auf zu brennen.

"Natürlich" meinte Charlotte, doch sie konnte nicht verhindern, dass ein wenig Enttäuschung in ihrer Stimme mitschwang. Trotzdem erhob sie sich und verließ den Raum. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, sank ich erschöpft in meinen Sessel zurück. Am Anfang hatte mich das Erzählen nicht so viel Kraft gekostet. Doch ich merkte dass meine Kraft von Tag zu Tag weniger wurde. Jeden Tag wurde ich schwächer, müder und Kränker.

Aber ich wollte weiter erzählen, das hatte ich mir fest vorgenommen. Ich würde Charlotte meine ganze Geschichte erzählen...

Lady Bentley von Highclere Castle Teil IIWhere stories live. Discover now