Kein Zuckerschlecken

8.3K 177 8
                                    

"Sie sprechen mit Nicole Müller. Wie kann ich ihnen helfen?" Ich hasste meinen Job! Vor 5 Jahren hatte ich in dem Call Center angefangen zu arbeiten und es sollte nur eine vorübergehende Sache sein, bis sich etwas Besseres ergab. Ich hatte mein Studium abgebrochen wegen einem Schicksalsschlag, der mich ungewollt zur zweifachen Mutter gemacht hatte und dies mit gerade mal 21. Ich wollte Architektin werden und mein Studium lief ohne große Zwischenfälle. Ich war fleißig und arbeitete doppelt so hart wie einige andere. Meine Wohnung, die ich in der teuersten Stadt der Welt hatte, musste schließlich finanziert werden und meine Eltern hatten mich nicht gerade mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. München hatte einfach die beste Uni für meine Wünsche und dies bedeutete eine überteuerte 25 qm Wohnung zu finanzieren. Vormittags Uni und abends fleißig, halbbesoffenen Münchnern das Bier reichen. Es war kein Zuckerschlecken! Doch als der Anruf aus Dortmund kam, der mich mitten aus einer Vorlesung raus riss, veränderte sich in wenigen Minuten mein Leben in einen Trümmerhaufen. Nach dem mich die Sekretärin nach einer gefühlten Ewigkeit getröstet bekam, sorgte sie dafür, dass ich zu meiner Wohnung per Taxi gebracht wurde und ich meine Koffer packen konnte um auf unbestimmte Zeit nach Dortmund zu fahren. Die Beerdigung meiner Eltern organisierte ich in einer Art Wachkoma und war dankbar, dass es einen Notar gab, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Er brachte es auch auf den Weg, dass ich das Sorgerecht für meine Geschwister bekam. Luisa war 10 Jahre und Luca gerade einmal 3 Monate. Luisa hatte den Autounfall nur überlebt, weil sie bei einer Freundin war und Luca musste für ein paar Tage ins Krankenhaus. Die ersten 2 Jahre nach dem Unfall, gingen an mir vorbei wie ein schlechter Film und mit der Hilfe des Jugendamtes, schaffte ich es, eine wirklich passable Mutter zu werden. Ich gab meine Wohnung in München auf und schmiss mein fast fertiges Studium hin und steckte nun also hier fest. 5 Jahre waren für manche Menschen eine lange Zeit, für mich nur ein Bruchteil meines Lebens. Ich brauchte auf jeden Fall schnelle Lösungen und eine vernünftige Bezahlung um die Kinder durch zu bringen und die Wohnung meiner Eltern halten zu können. Eine Arbeit, die eine großzügige Flexibilität verlangte, war einfach nicht drin. Dann stand die Annonce in unserer Stadtzeitung und ich sah ein Licht am Ende des Tunnels. Es passte perfekt zu den Schulzeiten von Luisa und es lag auch noch auf dem Weg. Auch konnte ich Luca bei einer Nachbarin für ein paar Stunden unter bekommen. Besser hätte es nicht laufen können. Es war nur Telefonberatung und hatte nichts mit Verkauf zu tun, was mich nachts besser schlafen ließ. Erst recht bei den Horrorgeschichten, die mir der ein oder andere neue Kollege erzähle. Wie auch immer, es war nun 5 Jahre her und ich war längst Teammanagerin und mein Fleiß konnte man nicht nur an meinem Aufstieg erkennen, sondern auch an meinem Konto. Bei einer Schwester wie Luisa, war ein gutes Gehalt auch nötig. Sie war nicht besonders verwöhnt, sie hatte nur mit ihren fast 16 Jahren eine eigene Vorstellung vom Leben, die sich schwer mit der Realität in Einklang brachte. Über ihre Haarfarbe oder ihren Kleidungsstyle machte ich mir schon lange keinen Kopf mehr. Ok, sie war vielleicht doch etwas verwöhnt. Was aber nicht hieß, dass sie nicht auch kräftig mit anpacken musste. Sie war genauso fleißig wie ich es ihr vorlebte und hatte in den Sommerferien ihren Babysitter Schein gemacht. Die Werbung lief gut für sie und eigentlich war sie mindestens 4-mal die Woche gebucht. Mehr erlaubte ich ihr nicht, damit die Schule nicht zu kurz kam. Sie war auf dem Gymnasium und hatte großes vor. Eine vorbildliche Schwester, die auch zu Hause alles in Ordnung hielt, wäre da nur nicht diese verfluchte Pubertät! Es vergingen die wenigsten Tage ohne Streit und morgens flüchtete ich förmlich aus unsere Wohnung. Am schlimmsten aber und das gab immer das Topping, ihre Leidenschaft, die für ein Mädchen absolut ungewöhnlich war. Fußball! Sie war sehr großer Fan von unserem BVB, obwohl man diese Vorliebe, rein nach dem Äußerlichen, ihr nie zugetraut hätte. Sie tat alles um bei jedem Heimspiel dabei zu sein und bei den Auswärtsspielen hatten wir von Donnerstag bis Dienstag Krach, weil ich sie nicht eben mal nach Berlin oder München ließ. Sie bettelte mich dann an, dass ich doch einfach mitfahren könnte und sie würde extra Aufgaben im Haushalt machen. Es zog nicht. Denn es gab nichts was mich weniger interessierte wie Fußball. Mir war es ein Rätsel, wie sie diese Leidenschaft entwickeln konnte. Nun stand ihr Geburtstag kurz bevor und ich überlegte mir, was ich ihr schenken könnte. Der Kunde am Telefon passte mir deswegen gerade noch weniger. Ein Arbeitskollege hatte mir die Vereinsseite empfohlen und ein paar andere zum Ticket kaufen. Als hätte ich nicht auch mal selbst auf die Idee kommen können, bei Google die Buchstaben "BVB" einzugeben. Internet war kein Neuland für mich. Ich hatte einen email Account, wusste mit Suchmaschinen umzugehen und war sogar bei Facebook angemeldet. Mein technisches Verständnis hatte einfach nie ein Interesse daran entwickelt. Ich liebte Bücher, brauchte zum Kaffee am Morgen eine Zeitung aus Papier in der Hand und sonst gab es noch einen Fernseher. Man hätte mich altmodisch einschätzen können, doch das war ich nicht. Ich bezog meine Informationen zum Leben und der Welt einfach nur lieber aus anderen Quellen. Ich liebte es Radio zu hören und war so auch immer auf dem neusten Stand der Musik. Wenn das alles nicht reichte, hatte ich immer noch Luisa. Endlich hatte ich mein Ohr wieder und konnte mich auf das Geburtstagsgeschenk konzentrieren. Ich war noch zwei Klicks entfernt einen Flug zu buchen und als nächstes war das Hotel dran. Die Karten für das Spiel hatte ich auch schon und hoffte, dass mein Vorhaben, meine Schwester aus den Schuhen hauen würde.

Ich, meine Schwester und MarcoWhere stories live. Discover now