Unerwartete Erkenntnis

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 Genüsslich streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen. Denn wer wusste schon, vielleicht war heute der letzte Tag, bevor sie sich für Wochen verabschiedete. Dann doch lieber die wärmenden Strahlen auf dem Gesicht spüren, solange das möglich war. Erst als ich eine Gestalt vor mir ausmachte, öffnete ich die Augen. Sascha stand vor mir, ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie war, wie so gut jeden Montag in der großen Pause, in bester Laune. Dass in den nächsten zwei Stunden Russich bei meinem Bruder für sie anstanden, trug einen erheblichen Teil dazu bei.

"Hey, du Schlafmütze", begrüßte sie mich und ließ sich auf die freie Fläche neben mir auf die Bank fallen. Auf dem ganzen Schulgeände waren ein halbes Duzend davon aufgestellt. Ich hatte mir bewusst die herausgesucht, die etwas abgelegen vom Schulhof stand, sodass man hier halbwegs seine Ruhe hatte.

"Ich schlafe nicht; ich entspanne", stellte ich klar und musste - welch Ironie - ein Gähnen unterdrücken. Am Wochenende hatte ich leider nicht viel Schlaf abbekommen, was einem gewissen Jemand zu verdanken war.

"Nach zwei Stunden Mathe würde ich auch erstmal eine Runde entspannen wollen. Alles okay, Clara?"
Anscheinend musste ich mal wieder mit den Gedanken abgedriftet sein. Kein Wunder, mein Kopf fühlte sich an als würde er jeden Moment platzen.

"Mir ist heute nur bewusst geworden, dass ich einen Unterkurs in Mathe kassieren werde. Simon redet nicht mehr mit mir. Dabei habe ich Mathe endlich mal halbwegs verstehen können, als er es mir erlärt hat", kamen die Wörter mit einem Seufzen über meine Lippen. Das allerdings war nur die halbe Wahrheit. Zwei ganze Stunden hatte ich meine Energie damit verschwendet, Augenkontakt mit Herr Finnig zu vermeiden. Jedes Mal, wenn ich auch nur in seine Richtung spähte, fühlte ich mich in meinen Traum zurückversetzt. Mir wurde heiß und kalt zugleich und mein Herz begann zu rasen. Ich wusste, wäre es nicht Finnig gewesen, ich hätte diesem Traum nicht annähernd so viel meiner Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ernsthaft, warum ausgerechnet er? Ein Lehrer. Mein Lehrer.

"Man, Clara! Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken. Doch nicht etwa bei Raphael?", beförderte mich Saschas Stimme in die Realität zurück.

"Nein, natürlich nicht!", meinte ich schnell und wahrheitsgetreu. Ehrlich gesagt hatte ich von Raphael seit unserer Trennung vor gut zwei Monaten kein Wort mehr gehört und meine Gedanken über ihn waren somit nur auf wenige seltene Momente reduziert.

"Was hast du vorhin gesagt?" Alles war besser, als sich über eine alte Liebe zu unterhalten, die gar keine gewesen war. Eine Zweckgemeinschaft war das viel mehr gewesen. Desto länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es mir. Raphael war ein wirklich guter Kerl mit viel Humor und einer zuvorkommenden Art, die jedes Mädchen schwach werden ließ. Als ich ihn auf einer Party (natürlich die Idee meiner besten Freundin, wie könnte es auch anders sein) kennenlernte und kurz darauf mit ihm zusammenkam, hatte ich mich so wohl und geborgen gefühlt wie seit langem nicht mehr. Der Hauptgrund warum ich mich überhaupt auf diese Beziehung eingelassen hatte. Immerhin ... sie hatte fast ein Jahr gehalten. Aber, ob wirklich so etwas wie Liebe im Spiel gewesen war, da war ich mir nicht sicher.

"Ich habe gesagt, dass ich dir doch vielleicht helfen könnte. Immerhin ist es meine Schuld, dass Simon nicht mit dir spricht", wiederholte sie netterweise und dann schon um einiges empörter: "Was gibt es denn da zu lachen?"

Nie wieder würde ich mir etwas von Sascha bezüglich der Schule erklären lassen. "Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du mir helfen wolltest?" Nicht eine Antwort abwartend, fuhr ich fort. "Du warst mit den Nerven fertig, weil du nicht einsehen wolltest, dass ich nicht einmal die leichtesten Dinge kappiere. So schlau du auch bist, Sascha, deine Lehrmethoden sind echt grenzwertig und unzumutbar für andere Menschen."

Beleidigt verschränkte meine beste Freundin die Arme vor der Brust. Wieder war ich mir unsicher, ob sie es ernst meinte oder nur etwas vorspielte. Bei ihr konnte man das nie so genau einschätzen.

In deinen HändenWhere stories live. Discover now