Liebes Tagebuch ...

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So. 13. 12. 2015

Ich habe lange nichts mehr in dich hinein geschrieben; der letzte Eintrag ist inzwischen drei Jahre her ... bisher hatte ich allerdings auch nicht das Verlangen danach. Bis heute zumindest. In den letzten vier Wochen ist nämlich so viel passiert. Nachdem ich erst befürchten musste selbst schwanger zu sein, stellte sich heraus, dass es Sascha ist und nicht ich. Ich habe meine beste Freundin in den fast vierzehn Jahren, die wir uns kennen, noch nie so verzweifelt und am Boden zerstört gesehen wie an diesem Tag. Sie hat sich bei mir ausgeweint, ich habe versucht sie zu trösten. Wobei ich glaube, nicht besonders erfolgreich damit gewesen zu sein.

Ein paar Tage später habe ich sie schließlich zu ihrer Frauenärztin begleitet, die ihr bestätigte in der sechsten Woche schwanger zu sein. Das Ultraschalbild ist der endgültige Beweis dafür. Sascha war dieses Mal gefasster, denn ersten richtigen Schock hat sie immerhin schon hinter sich – auch wenn ich nicht minder geschockt wie sie war.

Als sie sich dann entschied, ihren Eltern von der Schwangerschaft zu erzählen, war ich wieder dabei. Sascha hat mich darum gebeten. Da ich dabei war, waren ihre Eltern gezwungen ihr Entsetzen über das unverantwortliche Verhalten ihrer Tochter zurückzuhalten. Das alles hätte natürlich auch ganz anders aussehen können, aber zum Glück hat es das nicht und so hatten sie die Möglichkeit, ruhig über die Sache zu reden. Unangenehm war es trotzdem. Vor allem, da ich mich total fehl am Platz gefühlt habe. Aber diese Unterstützung konnte ich meiner besten Freundin nicht einfach verweigern. Sie hätte das Gleiche getan, wäre ich an ihrer Stelle.

Und obwohl ich es mir überhaupt nicht vorstellen kann – zumindest im Moment – ein kleines Leben in mir zu tragen, kann die damit verbundenen Gedanken nicht verdrängen. Ganz im Gegensatz zu Sascha habe ich keine Mutter, die mich anschreien könnte und auch keinen Vater, der enttäuscht von mir wäre. Ich habe nur Ben (der wahrscheinlich beides übernehmen würde), und doch wollen diese dämlichen „Was wäre, wenn ... - Fragen" nicht aus meinen Kopf gehen. Ich kann nur hoffen, dass sie bald weniger werden und ganz verschwinden. Ich möchte nicht mehr die ganze Zeit an -.

Über den Kindesvater hat Sascha übrigens kein einziges Wort verloren. Sie weigert sich, es irgendjemanden zu verraten. Nicht einmal mir möchte sie es erzählen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nicht ein wenig enttäuscht deswegen. Vor allem, da es ganz so aussieht, als wäre sie bei ihrem ersten Mal schwanger geworden. Wenigstens das hätte sie mir erzählen können. Immerhin habe auch ich ihr meines mit Raphael anvertraut – und sie weiß ganz genau welch Überwindung mich das gekostet hat, es überhaupt zuzulassen, dass er mir so nahegekommen ist.

Wenn wir schon beim Verschweigen von Details sind. Ich selbst verschweige meiner besten Freundin seit Wochen die unfreiwilligen Treffen zwischen Finnig und mir. Sie weiß weder von dem gemeinsamen Babysitten noch von meiner Rettung vor ihrem Bruder. Sobald sie erstmal davon erfährt, interpretiert sie höchstwahrscheinlich Dinge hinein, die gar nicht stimmen.

Oder schlimmer: stimmen. Ich weiß es selbst nicht so genau. Finnig verwirrt mich zutiefst. Meine ständigen Gedanken an ihn und die Reaktion meines Körpers, sobald auch nur sein Name fällt, verwirren mich. Nicht davon zu sprechen, wenn er sich in meiner Nähe befindet.

Dabei weiß ich so gut wie nichts über ihn. Okay, er hat ein ausgesprochen gutes Timing und dieses atemberaubend schöne Lächeln – so viel muss ich mir eingestehen. Aber sonst? Ich kenne nicht einmal sein Alter. Er erzählt aber auch nie etwas über sich im Vergleich zu manch anderem Lehrer. Als er vor zwei Jahren in meine Klasse kam, stellte er sich einfach als Herr Finnig vor. Kein Vorname und auch keine weiteren Informationen. Erst nach einem Jahr gelang es der Klasse, hinter seinen Vornamen zu kommen. Dass er sich auch immer so verschlossen und streng zeigen muss! Nein, das stimmt nicht ganz. Mir gegenüber war er offener, fast schon herausfordern das ein oder andere Mal. Und fürsorglich. Das hat er mir nur allzu gut bewiesen, als ich in der Kunststunde zusammengebrochen bin.

Wenn ich daran denke, dass er und Mister X. die ein und dieselbe Person sind ... ich hätte nicht zulassen sollen, dass Sascha mich mit ihrer Theorie ansteckt! Jetzt kann ich ihm nicht einmal mehr in die Augen sehen, ohne gleich daran denken zu müssen. Aus genau diesem Grund versuche ich, ihn zu meiden. Im Unterricht eine echte Herausforderung, aber es gelingt mir erstaunlicher Weise die meiste Zeit. Aber ich schaffe es einfach nicht, meinen Körper klar zu machen, nicht mehr verrückt zu spielen, wenn es um ihn geht.

Ich glaube ...

Ich habe mich in ihn verliebt, beendete ich den Satz in meinen Gedanken, ihn aufzuschreiben traute ich mich jedoch nicht. Es hätte etwas Endgültiges, wenn ich es blau auf weiß vor mir sehen würde.

Seufzend schlug ich mein Tagebuch zu, verriegelte das kleine Schloss an der Seite und legte es wieder an seinen gewohnten Platz. Meine Gedanken kreisten noch immer um Finnig; in meinem Bauch begannen, die Schmetterlinge wieder wie verrückt mit ihren Flügeln zu schlagen und ich befürchtete, sie würden nicht bald damit aufhören.



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