Kapitel 4

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»Dein Blick muss auf einer Linie mit dem Pfeil sein«, erinnerte Meera, während ich immer noch das grasende Reh anvisiert hatte. »Lass den Ellenbogen nicht so hängen.« Sie drückte meinen Arm hoch.
»Tut mir leid. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit einem Bogen umgegangen bin.«
In diesem Moment sah das Reh auf und ohne zu zögern, schoss ich. Der Pfeil verfehlte das Tier und mit einem Quieken sprang es davon. Ich seufzte und ließ enttäuscht den Bogen sitzen.
»Das war's mit unserem Abendessen«, sagte ich.
»Wir finden was anderes«, meinte Meera.
Ich reichte ihr ihren Bogen und richtete mich auf. Ich klopfte mir den Staub von meiner Kleidung, dann sah ich sie an.
»Was erzählt dein Bruder Bran, dass er nach Norden will? Was befindet sich dort?«
»Ich darf darüber nicht sprechen«, sagte Meera.
»Wer sagt das? Bran?«, hackte ich nach.
»Ja.«
Ich stöhnte genervt auf. »Er ist mein kleiner Bruder, und er benimmt sich wie mein König.«
»Er ist eine lange Zeit ohne dich ausgekommen. Vielleicht muss er sich erst wieder an dich gewöhnen«, meinte das Mädchen.
»An mich gewöhnen?«, wiederholte ich ungläubig.
»An das hier«, verbesserte Meera. »Daran, dass ihr wieder zusammen seid.« Meera holte einen Pfeil hervor und lief los. »Ich besorg' uns jetzt etwas zu essen. Geh zurück zum Lager.«
Ich sah ihr noch hinterher, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Da hörte ich es hinter mir knacken. Meine Hand wanderte zum Heft meiner Schwertes und während ich mich umwandte, zog ich es aus der Scheide. Die Spitze zeigte auf Jojens Hals, wenige Millimeter trennten Stahl und Haut.
»Was willst du?«, verlangte ich mit einem finsteren Blick zu wissen.
»Ich will versuchen, dir alles zu erklären«, meinte der Junge.
»Darauf kann ich verzichten.« Ich steckte das Schwert zurück und wollte an ihm vorbeilaufen, doch packte er mich, ohne sich auch nur von der Stelle zu rühren, am Handgelenk.
»Der Dreiäugige Rabe ruft nach Bran. Er kann ihm helfen.«
»Wie kann ein Rabe meinem Bruder helfen?«, gab ich spöttisch zurück.
»Du verstehst das nicht.«
»Wie soll ich's auch verstehen, wenn mir niemand etwas sagt!«, rief ich. Ohne eine Antwort abzuwarten, löste ich mich von ihm und rannte davon.

»Wo sind wir?«, wollte Osha wissen.
»An der Schenkung, denk ich«, antwortete Bran. »Brandon, der Erbauer, schenkte das ganze Land südlich der Mauer der Nachtwache, für deren Versorgung und Unterhalt. Maester Luwin hat mir das erzählt.«
Ich sah mich um. Neben uns war eine verlassene Mühle. Überall lag morsches Holz herum. Alte, hölzerne Gerippe zeigten, dass hier mal ein kleiner Stall stand.
»Zurzeit scheint es niemanden zu versorgen«, meinte Jojen.
»Das ist gutes Land und hier oben herrscht nicht Krieg. Aber hier ist keiner«, merkte Meera verwundert an.
»Wildlinge«, erklärte Osha.
»Tut mir leid«, sagte mein Bruder leise. »Aber sie kommen über die Mauer, plündern, klauen, verschleppen Frauen.«
»Die Alte Nan sagte, sie schnitzen Schüsseln aus deinen Schädeln und zwingen dich, dein Blut zu trinken«, erzählte Rickon.
Ich fuhr ihm mit der Hand durch die wuscheligen Haaren und zog ihn an mich. »Glaub nicht alles, was die Alte Nan gesagt hat.«
»Da kommt ein Sturm auf«, merkte Jojen auf einmal an.
Bran sah sich um. »Ich sehe nichts.«
Als Zustimmung donnerte es in der Ferne.
»Wir können hier Unterschlupf suchen.« Meera blickte zur Mühle.
»Wir können ja Blut trinken, während wir warten«, sagte Osha zu Rickon, als wir auf das Gemäuer zutraten. »Ich brauch' nicht viel.«
Ich nahm das wenige Gepäck von meinem Pferd und gab ihm einen Klaps. Es würde nur Aufmerksamkeit erregen, wenn es bei uns bliebe, und so war es das Beste, wenn es ging.

Das Rauschen des Regens drang durch die dicken Mauern, sowie die Kälte, die unter unsere Kleider kroch und uns frieren ließ.
»Wie schaffen wir's über die Mauer?«, fragte Bran.»Mein Onkel sagt, sie ist über 200 Meter hoch.« Mein Bruder blickte zu Osha, die ihm mit verschränkten Armen den Rücken zugedreht hatte. »Wie bist du drüber gekommen?«
»In ein Boot gestiegen und durch die Seehundsbucht gerudert«, antwortete die Frau nach einer Weile.
»Es dauert zwei Monate die Seehundsbucht zu erreichen«, erwiderte Bran.
»Manche klettern einfach hoch.«
»Selbst Hodor ist nicht stark genug mit mir auf dem Rücken, die Mauer zu erklimmen.«
»Hodor«, sagte Hodor.
»Es gibt einen anderen Weg«, meinte ich. »Wir gehen zur Schwarzen Festung.«
»Nein«, sagte Bran bestimmt und sah mich ernst an.
»Neunzehn Festungen schützen die Mauer«, begann Jojen. »Nur drei sind noch bemannt. Eine dieser verlassenen Festungen bietet uns einen Durchgang.«
»Die Toren wurden mit eisernen Steinen versiegelt, als sie aufgegeben wurden«, entgegnete Bran.
»Dann müssen wir sie wieder öffnen«, meinte Meera lächelnd und blickte wieder hinaus durch das kleine Fenster. »Draußen ist ein Reiter.«
»Nur einer?«, fragte Jojen.
»Mehrere.«
Jojen und ich erhoben uns und blickten ebenfalls durch das Fenster. Hodor begann in unserem Rücken zu jammern - er mochte Gewitter nicht.
»Das ist nur Donner, lieber Riese«, versuchte Osha ihn zu beruhigen.
Draußen wurde ein Reiter von drei weiteren eingekreist.
»Wildlinge«, meinte Jojen neben mir.
Daraufhin erhob Osha sich und blickte hinaus. »Wo sind Struppel und die anderen?«, fragte sie.
»Auf der Jagd«, erklärte ich.
Es donnerte und Hodor rief: »Hodor!« Unruhig begann er auf- und abzulaufen, immer wieder seinen Namen rufend.
»Sei ruhig, Hodor«, zischte Bran.
»Er muss still sein«, sagte Jojen. »Wenn sie uns hören ...«
»Still, Hodor. Nicht hodoren!«, versuchte mein Bruder den großen Mann zu beruhigen. Doch der Mann hörte nicht - er wurde immer lauter. »Hodor, nicht. Du musst still sein!«
»Sie werden uns hören«, meinte Jojen.
»Hodor! Hodor! Hodor!«
»Hodor, beruhige dich! Hodor, sei still!«
In der einen Sekunde hatte mein Bruder versucht, den riesigen Mann zum Schweigen zu bringen, in der nächsten schwieg er selbst, den Kopf gegen die Wand gelehnt.
»Bran!«, rief ich und lief auf ihn zu.
Ich kniete mich vor ihn und packte ihn an den Schultern. Als ich seine Augen bemerkte, wich ich vor Schreck nach hinten. Sie waren weiß, ohne Pupille und Iris - das Braun war verschwunden.
»Was ist mit ihm?« Panik kam in mir auf. »Was hat er?«
Jojen erschien hinter mir. Er hielt mir mit seiner Hand den Mund zu und wandte meinen Kopf zu dem Riesen. Hodor hörte auf zu schreien und sank auf die Knie - seine Augen waren ebenso so weiß wie Brans. Langsam ließ Jojen meine Hand sinken, als das Braun meines Bruders zurück in seine Augen trat.
»Was war das?«, verlangte ich mit Angst in der Stimme zu wissen. Voller Entsetzen starrte ich Bran an. »Was ist mit dir geschehen?«
»Er ist ein Warg«, erklärte Jojen ruhig.
»Was?«
»Warge können in die Köpfe von Tieren eindringen und diese lenken.«
Ich sackte in mich zusammen. Mein Blick glitt hinunter zu Boden, doch erfasste ich nichts. Bran war nicht mehr der, den ich in Winterfell verlassen hatte. Er war nicht mehr der, seit er von dem Turm gestürzt ist - und es war schwierig, dies zu akzeptieren.
»Was hast du gemacht?«, wollte Meera wissen.
»Gar nichts. Ich weiß es nicht.«
Auf einmal erklang ein furchtbares Kreischen.
»Was ist das?«, fragte Rickon.
»Ein sterbendes Pferd«, erklärte Osha, die nach draußen blickte.
»Die Wölfe sind da draußen«, sagte Jojen. Auffordernd sah er Bran an.
»Ich kann es mir nicht aussuchen. Ich weiß nicht, wie's geht. Es passiert in meinen Träumen.«
»Du bist ein Warg, Bran. Du hast es im Blut.«
»Ich kann's nicht«, erwiderte mein Bruder.
»Hast du doch gerade. Mit ihm.« Jojen blickte zu Hodor. »Ein Wolf ist nichts im Vergleich. Tu's. Sie finden uns, wenn du's nicht tust.«
Brans Atem beschleunigte sich, dann wurden seine Augen weiß.

»Ist das sicher?«, fragte Meera, als Osha ein Licht anzündete.
»Die sind längst weg«, entgegnete die Wildlingsfrau ruhig.
»Du hattest recht. Ich komme, wann immer ich will, in Sommers Kopf«, sagte Bran an Jojen gewandt.
»Selbstverständlich. Nördlich der Mauer gibt es Wildlinge, die die verschiedensten Tiere lenken können, aber du hast viel mehr geschafft. Du warst in Hodors Kopf.« Jojen blickte zu dem schlafenden Riesen.
»Können die das nördlich der Mauer nicht?«, fragte Bran.
Osha schüttelte schweigend den Kopf.
»Es kann keiner. Nirgendwo«, meinte Jojen.
Brans Blick wanderte zu mir. »Es tut mir leid, Sienna ...«
»Nein.« Ich hob die Hand und er schwieg. »Nein, Bran. Lass es.«
Mein Bruder sah zu Rickon. »Als ich durch Sommers Augen blickte, sah ich Jon.«
»Wo?«, fragte der Kleine.
»Er war bei den Wildlingen. Sie wollten ihn töten, aber er konnte fliehen.«
»Er wird auf den Weg zur Schwarzen Festung sein«, meinte ich. »Wir sollten ebenfalls dorthin.« Bran öffnete den Mund, doch ich schüttelte den Kopf. »Du magst nach Norden gehen zu müssen, aber für Rickon ist es zu gefährlich. Ich kann dich nicht von deinen Plänen abhalten, doch ich kann dich abhalten, ihn mitzunehmen.«
»Die Schwarze Festung könnte genauso gut schon angegriffen werden. Wenn so viele Wildlinge durchkommen -«
»Ich hab's dir schon gesagt: Ich gehe nicht über die Mauer«, schnitt Osha Bran das Wort ab.
»Alles, was Jojen zu mir sagte, ist wahr. Ihr habt es mit Hodor doch gesehen. Ich muss den dreiäugigen Raben finden.«
Osha ergriff Brans Hand. »Hör mir zu, kleiner Lord -«
»Keine Sorge, ich verlange nicht, dass du mitkommst. Sienna hat recht, für Rickon wäre es nicht sicher.«
»Für mich?«, fragte mein jüngster Bruder. »Aber ich begleite dich.«
»Nein«, sagte Bran und legte seine Hand auf Rickons. »Du und Osha und Struppel geht zum Letzten Herd. Die Umberse sind unsere Verbündeten. Sie werden euch beschützen.«
»Ich komme mit dir und Sienna«, erwiderte Rickon stur. »Ich bin euer Bruder. Ich muss auf euch aufpassen.«
»Zuallererst müssen wir auf dich aufpassen. Robb ist im Krieg und ich muss über die Mauer. Wenn uns etwas zustößt, bist du der Erbe von Winterfell.«
Rickon begann zu weinen, und er schüttelte den Kopf.
Bran wandte sich an Osha. »Kannst du zum Letzten Herd finden?«
»Ihr Südländer baut eure dicken Burgen und bewegt euch nicht. Ihr seid leicht zu finden.«
»Wir sind keine Südländer!«, rief Rickon und erhob sich. »Und ich will nicht von euch weg.«
»Schh. Komm her, kleiner Soldat.« Osha zog meinen Bruder auf ihren Schoß. »Du und ich, wir werden Abenteuer erleben.«
»Du müsstest das alles nicht tun«, meinte Bran.
»Eure Familie nahm mich auf und war gut zu mir, ohne es zu müssen«, erklärte die Frau, während sie Rickon immer wieder über den Kopf strich. »Schh. Wir schaffen das, du und ich. Die Umbers sind groß Krieger. Sogar ich hab' als Kind von ihnen gehört. Sie bringen dir bei, ein Schwert zu schwingen.«
»Ich weiß, wie man ein Schwert schwingt«, erwiderte der kleine Junge. Osha lachte leise und zog meinen Bruder auf die Beine.
Bran sah die beiden fragend an. »Ihr geht jetzt? Es ist mitten in der Nacht.«
»Ich hab' gelernt, in der Dunkelheit zu gehen.« Osha küsste Rickons Haar. »Verabschiede dich, kleiner Mann.«
Der Junge kniete sich vor Bran und fiel ihm um den Hals.
»Passt gut auf ihn auf«, sagte Osha an Jojen und Meera gewandt. »Er bedeutet mir alles.«
»Ich werde euch begleiten«, sagte ich.
»Nein. Bran braucht dich, und zwei Menschen fallen weniger auf als drei.«
Rickon löste sich von Bran und kam langsam herüber zu mir. Ich breitete die Arme aus und umarmte ihn.
»Jetzt gehst du schon wieder«, meinte er.
»Nein, Rickon, dieses Mal gehst du«, erwiderte ich. »Aber du bist dann in Sicherheit, ich war's damals nicht.«
»Ich will nicht gehen.«
»Wir werden uns wiedersehen, Rickon, das verspreche ich. Und dann werd' ich dich fest im Arm halten, als wäre es das letzte Mal. Hab' keine Angst, kleiner Bruder. Alles wird gut.«

1919 Wörter

Und Sienna wird sich an ihre Worte erinnern, wenn sie ihn wiedersieht, das kann ich schon mal sagen 😟

Was sagt ihr bisher zu der Geschichte?

Valar Morghulis || Game of Thrones Staffel 3-4Where stories live. Discover now