Kapitel 10

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»Ich hätt' sie niemals allein lassen dürfen«, sagte Sam mit Tränen in den Augen.
»Das konntest du nicht ahnen«, meinte Jon.
»Natürlich hätt' ich es ahnen können. Sie hatten schon Dörfer in der Nähe überfallen.«
»Und wir kauern hier drinnen, während sie unsere Brüder abschlachten!«, rief Grenn aufgebracht, der die ganze Zeit auf und ab lief.
»Unsere Brüder hatten Befehle in der Schwarzen Festung zu bleiben«, sagte Edd ruhig, der gegen einen Stützpfeiler lehnte.
»Also ist es gut so, ja? Der schwarze Jack, Chett und Marly werden massakriert, weil sie gegen Regeln verstoßen?«
»Ich sagte nicht, dass es gut ist. Ich sage, sie hätten nicht dort sein dürfen«, meinte Edd.
»Wir haben uns verpflichtet, die Reiche der Menschen zu verteidigen!«
»Sie ist meinetwegen tot«, flüsterte Sam.
»Und wir können nicht mal Mulwarft schützen«, sprach Grenn weiter.
»Wir können sie nicht angreifen, das weißt du«, schritt Jon ein. »Genau das wollen sie.«
Grenn stützte sich schweigend auf dem Tisch auf.
»Der kleine Sam«, er meinte Goldys Kind, »... als hätt' ich ihm selbst die Kehle durchgeschnitten.«
»Vielleicht sind sie davongekommen, bevor die Wildlinge sie erreicht hatten«, sprach ich zuversichtlich auf Sam ein.
»Ja, vielleicht hat sie sich ja verstecken können«, sagte nun auch Pyp. »Ich dachte, auch ihr seid alle tot. Ihr seid mit Mormont in den Norden und keiner kam zurück - ewig lang nicht. Dann kamt ihr doch.«
»Sie hat Craster überlebt, das schlimmste Schwein, das mir je unterkam. Sie hat den langen Marsch zur Mauer überlebt. Sie hat einen Weißen Wanderer überlebt, um Himmels Willen«, erinnerte Edd. »Sie könnt's geschafft haben.«
Sam sah seine Freunde hoffnungsvoll an. »Möglich wär's.«
»Wenn sie Mulwarft angreifen, sind wir als nächste dran«, sagte Jon vorsichtig. »Manke und seine Armee müssen in der Nähe sein.«
»Hunderttausend von ihnen«, meinte Pyp.
Grenn richtete sich auf. »Und von gerade mal 105.«
»106«, verbesserte ich.
Jon sah mich verwundert an. »Wie bitte?«
»Ich werde mit euch kämpfen.« Selbstsicher blickte ich ihm in die Augen.
»Auf keinen Fall!«, rief mein Bruder sofort. »Du wirst hier hinter den Mauern bleiben.«
»Und darauf warten, dass irgendjemand irgendwann zurückkommt, ich entweder mit Freude empfangen oder vergewaltigt werde - je nachdem, wie es ausgeht? Ich sterbe lieber auf dem Feld, als geschändet oder gefoltert zu werden.«
»Wenn wir gewinnen und du hierbleibst, lebst du. Kämpfst du mit uns, ist die Wahrscheinlichkeit, zu sterben, höher. Ich kann das nicht zulassen!«
»Ich hätte unzählige Male sterben können. In Königsmund, bei meiner Flucht, beim Angriff der Lennister-Vasallen, sogar beim Weg hierher«, erwiderte ich. »Doch ich bin es nicht, ich habe überlebt.«
»Hast du auf deiner Reise jemals in einer Schlacht gekämpft?«, wollte Jon wissen. »Hast du jemals dein Schwert nach mehr als eine Handvoll Männer geschwungen? Das hier ist nicht wie das Training in Winterfell, wo du gegen Rodrik gekämpft hast. Das hier ist Krieg.«
Ich schwieg kurzzeitig, doch dann trat ich einige Schritte auf ihn zu. »Versuch mich aufzuhalten, Jon, doch es wird dir nicht gelingen. Was kann mir noch genommen werden, was ich nicht längst schon verloren hab'?«
»Wir müssen noch Schwarzer Jack, Chett und Marly abziehen«, sagte Edd in diesem Moment, und ich richtete mich auf und lehnte mich trotzig gegen die kalte Wand. »102.«
»Wie sollen 102 Männer einhunderttausend aufhalten?«, fragte Pyp.
»Wer von uns zuletzt stirbt, möge so nett sein, die anderen zu verbrennen«, sagte Edd, während er fünf Krüge mit Bier füllte. »Wenn ich mit dieser Welt fertig bin, will ich nicht mehr wiederkehren.«
Alle tranken etwas, bis auf Sam. Er machte sich weiterhin Sorgen um das Wildlingsmädchen und dessen Sohn.
»Ich werde nach draußen gehen«, verkündete ich. Bevor Jon etwas erwidern konnte, zog ich den neuen Umhang, der mir gegeben wurde, fester und trat hinaus. Die Kälte schoss mir sogleich ins Gesicht. Ich spürte, wie das Blut in meine Wangen lief, meine Knöchel an den Fingern färbten sich weiß.
Meine Hände umschlossen das Geländer. Das Holz war von Eis und Schnee überzogen und die Kälte kroch durch meine ledernen Handschuhe hindurch. Ich blickte hinunter auf den Hof. Einige Männer kämpften, Schwerter wurden geschliffen, Rüstungen poliert - sie machten sich bereit für die Schlacht.
Ein kleiner Junge sah zu mir hinauf; er wirkte kaum älter als Bran. Was er wohl für eine Geschichte hatte? Warum er hier war? Warum jeder einzelner hier war? Die meisten waren Schänder, Diebe - Verbrecher jeder Art. Es brachte mir ein unruhiges Gefühl ein, zwischen all diesen Männern. Es war mir schleierhaft, wie Jon hier leben konnte.
»Hier draußen ist es kalt, M'lady. Vielleicht solltet Ihr lieber wieder hineingehen«, erklang auf einmal eine alte, brüchige Stimme neben mir.
Ich wandte mich um. Ein alter Mann mit wenigen weißen Haaren stand vor mir. Er trug ein schwarzes Gewand und eine mir wohl bekannte Kette um dem Hals.
»Ihr seid Maester Aemon«, bemerkte ich.
»Ja, der bin ich wohl, liebes Kind.« Der Maester sah mich nicht an, er schien durch mich hindurchzusehen. Die Farbe seiner Augen war verblichen, sie waren glasig und kalt - er war blind.
»Wenn es Euch beliebt, würde ich gerne an einem warmen Kaminfeuer mit Euch sprechen. Meine Glieder sind alt und müde.«
»Natürlich, Maester Aemon.« Ich ergriff den Arm des Mannes und ging mit ihm zu seinen Gemächern. Ich half ihn, sich auf seinen Stuhl zu setzen, und setzte mich dann auf den Platz ihm gegenüber.
»Was macht Eure Wunde?«, fragte der Mann.
»Sie schmerzt noch ein wenig, aber es ist erträglich. Danke, Maester Aemon.«
»Ihr müsst Euch nicht bedanken, mein Kind. Ich habe das getan, was richtig war. Euer Bruder hat sich Sorgen um Euch gemacht.«
Ich lachte leise. »Ja, das tat er schon immer.«
»Er wird nicht zulassen, dass Euch etwas zustößt, und Ihr werdet nicht auf ihn hören, auch wenn er Euch davon abhalten wird, zu kämpfen.«
Mein Gesicht erstarrte und entsetzt sah ich ihn an. »Woher wisst Ihr das? Ich meine, Ihr ward nicht dabei.«
»In meinen vielen Jahren, die ich nun schon auf dieser Welt verweile, habe ich viele Menschen getroffen. Ihr sehnt Euch nach Gerechtigkeit, Ihr sehnt Euch nach Rache. Rache dafür, was die Lennister Eurer Familie angetan haben. Glaubt Ihr, ich weiß nicht, wie das ist, wenn die eigene Familie nach und nach unter der Erde verschwindet?«
»Wer seid Ihr?« Meine Frage war eher ein Flüstern. Dieser Mann machte mir Angst, sein Wissen machte mir Angst. Man traf nicht immer auf einen Blinden, der einen nach wenigen Worten kannte.
»Ich bin ein Maester der Zitadelle«, gab der Mann zurück.
»Wer wart Ihr, bevor Ihr ein Maester wurdet?«, fragte ich.
»Einst fragte mich Euer Bruder genau dasselbe«, meinte der Bruder der Nachtwache mit einem Schmunzeln. »Und ich sage Euch dasselbe wie ihm damals: Mein Name ist Aemon Targaryen. Mein Vater war Maekar, der Erste seines Namens. Mein Bruder Aegon regierte nach ihm, da ich den Thron verweigerte. Später folgte sein Sohn Aerys.«
»Der Irre König war Euer Großneffe«, brachte ich mit geweiteten Augen hervor. »Er befahl meinen Großvater und meinen Onkel Brandon zu töten.«
Jeder in Westeros kannte die Geschichte der Targaryen, dem einstigen Herrschervolk, bevor Jaime Lennister den Irren König Aerys hinterrücks ermordete und Robert Baratheon seinen Sohn im Kampf tötete. Maester Aemon war der letzte seiner Linie – jedenfalls waren mir keine weiteren lebenden Verwandten bekannt.
»Ich sagte nie, dass ich stolz auf manche Mitglieder meiner Familie war«, sagte Maester Aemon. »Wir können uns nicht aussuchen, wer zu ihr gehört, aber dennoch lieben wir sie - manche mehr und manche weniger. Ihr müsst Euren Bruder verstehen, M'lady. Nach allem, was passiert ist, will er Euch nur schützen.«
»Aber ich kann nicht einfach hier drinnen warten, während vor der Tür gekämpft wird«, entgegnete ich.
»Ich sagte, Ihr sollt versuchen, Ihn zu verstehen, nicht, seinen Anweisungen zu folgen.«

1227 Wörter

Noch ein Kapi heute. Mögt ihr Maester Aemon? Was sagt ihr zu seinen Worten? ^^

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Valar Morghulis || Game of Thrones Staffel 3-4Where stories live. Discover now