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Für Jasmin♥

Irgendwann schlafe ich ein. Aber ich schlafe nicht lange. Und nicht gut. Um 4 Uhr morgens bin ich wieder wach. Ich starre an die Decke, draußen ist es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Ab und zu wird mein Zimmer kurz erleuchtet, dann fahren wir an einem Bahnhof vorbei. Es ist mir egal. Alles ist mir egal.
Um halb sieben stehe ich auf. Stelle mich unter die Dusche, dann öffne ich den großen Kleiderschrank. Was soll ich nur anziehen. Eigentlich sinnlos, dass ich mich in meinen letzten Tagen frage, was ich anziehen soll, aber so viele Klamotten hatte ich noch nie zur Auswahl. Schließlich entscheide ich mich für eine dunkle Jeans und ein Trägertop. Es ist grau. Als ich fertig bin, klopft Sam gerade an die Tür. "Hm?" "Frühstück!" "Jo, ich komme", rufe ich und renne zur Tür. Erst als ich auf dem Flur stehe, fällt mir auf, dass meine Haare noch nass sind. Egal, in der Arena werden die Menschen mehr von mir sehen, als mir lieb ist. Obwohl es eine unglaubliche Auswahl an allen möglichen Dingen, die man auf rätselhaften Wegen mit "Frühstück" verbinden könnte, gibt, schmeckt für mich alles gleich. "Heute zieht ihr nach 13 ein. Ihr werdet euren Vorbereitungsteams übergeben und dann eurem Stylisten. Heute Abend bekommt euch die Nation zu sehen. Ich habe auf euer Verhalten bei der Eröffnung keinerlei Einfluss. Aber macht bitte, was euer Stylist euch sagt. Lasst es einfach über euch ergehen, okay? Bei mir war das damals auch so." Wir nicken, Sam scheint unsere ungewollte Synchronität unglaublich witzig zu finden. Typisch Sam.
Nach dem Frühstück fahren wir in Distrikt 13 ein. Wir werden von jubelnden Menschenmassen empfangen. Die skandieren jetzt schon unsere Namen. Und da hatte ich Angst, zusammen mit Quintus das tragische Lienespaar 2.0 zu werden... Ein paar, wie soll ich sagen, Bodyguards bahnen uns einen Weg durch die Menschen. In Distrikt 13 haben sie alles überirdisch verlegt. Irgend eine neuartige Technik von der ich nichts verstehe. Für uns haben sie extra ein Trainingscenter erbaut. Ein riesiger Wolkenkratzer mit grauer Fassade. An den Eckpunkten stehen rote Säulen.
Die Tür öffnet sich von alleine und wir stehen im Foyer des Trainingscenters. Eine Frau sitzt am Empfangstresen. Joanne tritt vor. "Ich bin Joanne Clarkwhite aus Distrikt 5", sagt sie und wirft ihre schwarzen Haare zurück, "hinter mir stehen Lilly und Jimmy Eisenberg." Die Frau würdigt Joanne keines weiteren Blickes und dreht sich zu einem Mann um, der etwas weiter entfernt sitzt. "5 ist angereist." Er nickt und tippt etwas in den Computer ein. Die Frau wendet sich wieder uns zu, zeigt auf den Fahrstuhl. "13. Stock. Dort sind die Erneuerungsstudios. Links für die Jungen, rechts Mädchen."
Unter mir verschwindet langsam das Erdgeschoss, die unfreundliche Empfangsdame und alles andere. Ich schiele verstohlen zu Jimmy hinüber. Er lächelt, sowas hat ihm schon immer fasziniert. Viel zu schnell geht die Fahrt vorüber und wir stehen vor den Erneuerungsstudios. Auf der rechten Seite stehen drei junge Frauen vor der Tür, sie können nicht viel älter als ich sein. Sam schiebt mich sanft zu ihnen hin. Ein dunkelhaariges Mädchen schiebt sich vor die anderen. "Lilly?" Ich nicke. "Mein Name ist Jenny. Hinter mir, mit roten Haaren ist Isabella und die Blonde ist Lauren. Wir sind dein Vorbereitungsteam und das ist uns eine große Ehre. Lass uns einfach reingehen, es sind noch nicht viele da." Ich nicke und Isabella hält mit die Tür auf. Ich lächele sie kurz an, dann habe ich den Blick wieder starr nach vorne gewandt.

Ich sitze in einem knappen Nachthemd auf einer dieser krankenhausartigen Liegen, mein Vorbereitungsteam ist vor einiger Zeit verschwunden. Sie sind ganz nett, aber haben glaube ich keine Ahnung von meiner momentanen Situation. Wenn ich überleben will, müsste Jimmy sterben. Und das kann ich nicht zulassen.
Vor mir öffnet sich die Tür. Ein junger Mann kommt rein, er trägt ein hellblaues Hemd, das nicht gerade ordentlich geknöpft wurde und sieht, kurz gesagt verdammt attraktiv aus. Seine grünen Augen haben ihren ganz eigenen, magischen Glanz. "Hey, Lilly. Ich bin Paul, dein Stylist", sagt er mit einer perfekt zur restlichen Erscheinung passenden Stimme. "Paul Bernard. Aber nenn mich bitte einfach Paul. Ich würde sagen, bevor wir uns über dein Outfit für die Eröffnung unterhalten, habe ich noch etwas anderes vor. Deine Mentorin Joanne erzählte mir, dass ihr euch die Erntezusammenfassungen noch nicht angeschaut habt. Und weil wir noch eine Menge Zeit haben, lass uns das jetzt nachholen." Ich nicke. "Ja, sehr gerne." Paul schaltet den Fernseher vor uns an. Die Hymne Panems ertönt, dann die Erklärung eines Sprechers, warum diese Hungerspiele so besonders sind. Unterlegt ist das Ganze von Bildern der Revolution. Dann wird die Ernte in Distrikt 1 gezeigt. Es gibt auch dieses Jahr Karrieros. Der Junge und seine Partnerin, die sich freiwillig auf die ganze Sache einlassen, sind vielleicht nicht so gut trainiert wie die Karrieretribute aus den früheren Hungerspielen, aber gegen uns haben sie trotzdem viel bessere Chancen. Genauso sieht es in Distrikt 2 aus: muskulöse, selbstsichere Jugendliche nehmen die Plätze von Schwächeren ein. Die Tribute aus Distrikt 3 und 4 sehen nicht gerade zuversichtlich auf ihren Sieg aus. Dann kommen Jimmy und ich. Auch die Tribute aus 7 sehen ganz vielversprechend als Sieger aus. Der Junge ist leicht gebräunt mit schwarzen, dicken Locken und das Mädchen betritt siegessicher die Bühne. Sie guckt, als könne sie es nicht erwarten, endlich da rein zu gehen. Aber keiner der beiden hat sich freiwillig gemeldet. Nur die Tribute aus Distrikt 12 bleiben mir außerdem in Erinnerung. Wracks, mit dem Glanz der vergangenen Zeiten noch auf der Haut. Das Mädchen kenne ich: Celestia Snow, die Enkelin von Coriolanus Snow, dem Expräsidenten Panems. Der, der für die ganze Sache hier verantwortlich ist. Ich weiß nicht, wie sie tickt. Ob sie eigentlich aufseiten der Rebellen war, oder ob sie bedingungslos ihrem Großvater zur Seite stand. Letztendlich zählt für mich sowieso nur, ob sie gefährlich ist, und das trifft wohl eindeutig nicht zu.
"So", sagt Paul, nachdem wir uns auf die Sessel um einen Glastisch herum gesetzt haben, "was verbindest du denn mit deinem Distrikt?" "Naja... das durch Strom nunmal alles möglich ist. Alles Technische und er verbindet uns..." "Das stimmt schon, Lilly, aber ist dein Distrikt wirklich 5? Kommst du nicht eher aus dem Kapitol?" "Doch, Paul, du hast recht. Ich komme aus dem Kapitol." Zufrieden nickt er. "Hier sind Papier und Stifte. Zeichne dein Eröffnungskostüm. Und denk dran: Kapitol!", sagt er mit einem Augenzwinkern. Ich zeichne Strich für Strich. Überlege mir jede Bewegung genau. Mache nichts rückgängig. Im Endeffekt ist auf dem Papier eine perfekt proportionierte Puppe zu sehen, in diesem Moment bin ich froh, in der Schule Zeichnen gewählt zu haben. Die Puppe trägt einen kleinen Hut in pink, der mit einer Art Draht am Kopf befestigt ist. Das eigentliche Outfit besteht aus einer sehr taillenbetonten, grünen Anzugjacke und einem passenden, an den Oberschenkeln engen, sich dann nur wenige Zentimeter unter den Knien in einer Art Rüschchen sich weitenden Rocks, der ungefähr zehn Zentimeter unter den Knien endgültig endet. Die Puppe trägt unter der Jacke eine Bluse in der Farbe des Huts. An den Füßen sind ebenso pinke Highheels. In der linken Hand hält sie einen pinken kleinen Regenschirm, der aber mehr an einen vergrößerten Cocktailschirm erinnert. An den Armen trägt die Figur pinke, glitzernde Muster, das Make Up überlasse ich einfach Paul. Ich reiche ihm das Blatt und sehe, wie ein Lächeln seine wohlgeformten Lippen umspielt. "Perfekt", meint er nur. Jetzt lächele auch ich. "Ich dachte, das Make Up kannst du übernehmen." "Liebend gerne. Ich schicke das hier nur schnell mit deinen Maßen in die Schneiderei, dann unterhalten wir uns über den Rest." Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, während Paul irgendwas in einen mir fremden Apparat an der Wand eintippt. "Ich würde sagen, dass wir das Make Up so schlicht wie möglich lassen, richtig?" Ich bin einverstanden. "Prima, dann können wir uns ja jetzt eine Weile unterhalten. Von Joanne habe ich gehört, dass ihr nicht gerade die Musterkapitolaner ward. Jetzt wundere ich mich aber schon die ganze Zeit, warum du dann so ein Outfit gestaltet hast." "Hat Katniss Everdeen je vor ihren ersten Hungerspielen in Flammen gestanden? Kohle verbrannt? Oder zumindest in einer Mine gearbeitet?" Er schüttelt seinen Kopf. "Aber man hat Distrikt 12 in ihrem Kostüm erkannt. Würde ich meine Schuluniform aufzeichnen, hätte niemand eine Idee, was ich damit bezwecken will. Wenn ich aber in den typischen ausgefallenen Kapitolklamotten auflaufe, weiß jeder gleich, was Sache ist." Er nickt noch einmal. "Leuchtet ein." In diesem Moment wird mein Outfit hereingebracht.

"Gefällt es dir?" "Perfekt", lächele ich. Ich stehe vor einem Ganzkörperspiegel und bewundere die Vollkommenheit meiner Kreation. Nachdem Pauls geschickte Hände mein Gesicht verschönert hatten und meine widerspenstigen Haare zu einem komplizierten Zopf geflochten hatten, kann ich mir nur noch gefallen.

Wir gehen zum Fahrstuhl. Dieses Jahr hat jeder Distrikt seine eigenen Katakomben, aus denen er mit seinem Wagen nach draußen fährt. So sieht niemand vorher unsere Outfits. Jimmys und mein Outfit passen perfekt zueinander. Wir sind eben immer noch Zwillinge. Jimmys Stylistin Margaret bringt uns zum Wagen, vor den zwei weiße Schimmel gespannt sind. "Viel Glück, Jim. Und dir auch, Lilly." Sie lächelt uns an, dann stellt sie sich neben Paul. Draußen beginnen die Menschen zu jubeln. Distrikt 1 muss gerade herausgefahren sein. Doch alles, woran ich denken kann, ist, dass Margaret Jimmy "Jim" genannt hat. Normalerweise sagt er jedem sofort, er solle ihn "Jimmy" nennen. Und wer würde das nicht annehmen? Es gibt nur eine plausible Erklärung für Margarets Verhalten: Er hat es ihr nicht angeboten. Das bedeutet, dass er ihr nicht vertraut. Und das ist nicht gut, wenn er überleben soll. Und das wird er.
Die Tore vor uns öffnen sich und die Schimmel setzen sich in Bewegung. Es gibt kein Zurück mehr. Jetzt wird jeder meinen kleinen, eigenen Akt der Revolution sehen.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now