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Wie erstarrt bleibe ich stehen. Was haben sie mit ihr gemacht? Wieso tun sie das, sie hatten doch immer gesagt, dass das aufhören soll. Und jetzt sehe ich meine beste Freundin da oben stehen. Kann sie noch sprechen? Weiß sie, dass ich hier bin? Und wie lange ist sie schon hier? Jemand stößt mich am Arm an. Jimmy. "Lilly, es macht keinen besonders tollen Eindruck, wenn du hier rumstehst wie eine Ölgötze. Wir sind nicht allein", raunt er mir ins Ohr. "Da ist sie", höre ich mich nur flüstern. Ich erlebe alles, als wäre ich gar nicht in meinem Körper drin, sondern jemand Außenstehendes, der die Szene beobachtet. "Lass uns später weiter reden, Lilly. Komm, wir stellen uns da hin." Sanft nimmt er meinen Arm. Die Bewegung holt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich gehe mit Jimmy zu den anderen Tributen, die im Kreis um eine junge, drahtige Frau aufgestellt sind. Ich schaue unauffällig zu ihnen hinüber. Keiner scheint meinen Schock bemerkt zu haben. Glück gehabt. "Ich bin Lila Terrell, eure Cheftrainerin. Heute eingeschlossen habt ihr jetzt drei Tage, um eure Talente zu entdecken und zu entwickeln. Sobald ich das Training angepfiffen habe, dürft ihr jede Station so lange, wie ihr wollt, besuchen. Aber es wird nicht mit den anderen Tributen gekämpft, verstanden?" Auf unser Nicken hin, fährt sie fort. "Denkt immer daran, dass 23 von euch bald tot sein werden. Und ihr könnt nicht nur von anderen Tributen getötet werden. Wenn ihr eine giftige Beere esst, sterbt ihr genauso wie durch einen Messerstich. Also denkt ja nicht, dass Waffen alles sind. Und jetzt wünsche ich euch einfach alles Gute." Ein schriller Pfiff ertönt, das Training hat begonnen. "Wo willst du hin?", fragt Jimmy mich. "Lass uns erstmal gucken, was es alles gibt." Ich lasse meinen Blick über die Halle schweifen. Da sind natürlich die klassischen Stationen wie Schwertkampf, Speerwurf oder Bogenschießen. Außerdem gibt es noch andere Waffen: den Morgenstern, Schleuder und sogar Feuerkampf. Und dann gibt es noch die unattraktiveren Stationen. Tarnung, essbare Pflanzen, Fallenstellen und Knotenbinden. Mehrere Fitness- und Ausdauerparcours, stehen zur Auswahl, die wir durchlaufen können. Unter anderem ein reiner Rennparcours. Außerdem sehe ich eine Art Ringkampfstation. Ich sehe zu Jimmy. "Ist mir egal. Entscheide du." Er rollt mit seinen Augen. "Sag doch einfach irgendwas." Auf mein Kopfschütteln entgegnet er: "Dann gehen wir zur Tarnung." Ich bin einverstanden und zusammen gehen wir zur bisher unbesuchten Station. Der Lehrer ist ein etwas älterer Mann, der aber recht freundlich wirkt. Doch auch er kann nichts daran ändern, dass wir beide uns einfach völlig bescheuert anstellen. Unsere Baumrinde sieht er aus wie ein grüner Tümpel, der Schlamm wie ein brauner Farbspritzer. Nach einer Dreiviertelstunde gehen wir weiter. "Oh Mann", sagt Jimmy, als wir etwas weiter weg sind. "Eigentlich kannst du doch gut zeichnen, Lilly, oder?" "Du doch auch, oder nicht? Ich konnte aber noch nie malen. Nur mit Bleistift zeichnen." Jimmy seufzt. "Das selbe gilt dann wohl für mich."
Wir schlendern weiter lustlos umher. Dann zieht Jimmy mich am Arm. "Komm, ich will mich mal im Schwertkampf probieren", sagt er. Da ich keine Wahl habe, folge ich ihm.

Mit einem lauten Knall fällt das Schwert zu Boden. Ich lasse die Schultern hängen. "Jimmy?" "Ja, Lilly, was gibt's?" "Ich geb's auf. Ich krieg es einfach nicht hin." Ein dumpfer Laut ertönt und ein Kopf, der mal zu einer der Trainingspuppen gehört hatte, fällt mir vor die Füße. Jimmy ist in seinem Element. Der Trainer ist begeistert. Jedenfalls von ihm. Jedes Mal, wenn ich versuche, irgendetwas mit der Waffe zu machen, fällt sie zu Boden. Ich kann von Glück reden, dass ich noch alle meine Zehen habe. Als Jimmy alles kann, was er können muss und ich noch beim Stand von vor einer Stunde bin, gehen wir weiter. Jimmy schlägt vor, es mal mit den etwas selteneren Waffen zu probieren und ihm zuliebe stimme ich zu. Er will ja nur helfen.
Ich kann es nicht. Vor Feuer habe ich Angst, mit der Schleuder treffe ich einmal fast den Trainer. Frustriert werfe ich die Waffe hin, ziehe Jimmy am Arm weiter. "Komm, Jimmy, es hat keinen Sinn." Jimmy schaut mich besorgt an, aber mir ist alles egal. Ich brauche etwas, woran ich meine Wut ablassen kann. Ich zerre den immer noch verwunderten Jimmy zu einem der Parcours. Erst als wir schon in der Schlange stehen, schaue ich nach, wo ich mich hingestellt habe. Rennen & Reflexe. Schwierige Stufe, steht auf dem Schild. Kein Wunder, dass hier nur ein paar Karrieros vor uns stehen. Ich spüre ein paar spöttische Blicke von ihnen, besonders den Jungen aus Distrikt 1 scheint es zu amüsieren, dass wir hier stehen, wo ich doch gerade erst so versagt habe. Doch das stachelt mich nur noch weiter an. Ich lasse Jimmy vor mich und sehe den Mädchen aus Distrikt 1 und 2 zu, wie sie den Parcours durchlaufen, bis sie hinter einer Ecke verschwinden. Als sie herauskommen, sieht man ihren Gesichtern an, dass es schwer war. Ich schaue auf die Tafel über mir, die die Zeiten der Tribute anzeigt. Beide haben ungefähr eine Minute gebraucht. Jetzt ist Jimmy dran. Auf meinem Rücken spüre ich wieder den höhnischen Blick des Jungen aus Distrikt 1. Jimmy rennt los. Er legt einen tollen Start hin. Hinter mir höre ich, wie der Junge aus Distrikt 1 die Luft anhält. Vor mir wird eine Glasscheibe heruntergefahren, damit ich nicht hinterherrenne. Jimmy legt noch an Tempo zu. Er hat fast die Wand erreicht, hinter der ich ihn nicht mehr sehen können werde, als aus der Seitenwand eine gepolsterte Stange gefahren wird, direkt dahin, wo Jimmys Fuß eine Sekunde später aufkommt. Ich will ihn noch warnen, stoße einen ersticken Schrei aus... durch die Glaswand dringt kein Laut. Jimmy gerät ins Straucheln, fällt hin. Ich höre, wie der Junge aus Distrikt 1 höhnisch lacht. Doch Jimmy rappelt sich auf, rennt weiter. Dann kann ich ihn nicht mehr sehen. Ich trete einen Schritt zurück, damit ich die Zeittafel besser sehen kann. Angespannt starre ich drauf. Die roten Zahlen bewegen sich stetig weiter. Sie bewegen sich zu lange. 1 Minute. 1 Minute und 15 Sekunden. 30. 45. Die Uhr bleibt bei 2 Minuten und 5 Sekunden stehen. Der Junge belächelt Jimmy müde. Er holt den Zorn zurück, der eben noch durch die Sorge um Jimmy begraben war. Jetzt bin ich dran. Die Glaswand wird hochgefahren. Ich mache mich startklar. Das Signal ertönt und ich renne los. Lege alle meine Gefühle in die Bewegung meines Körpers. Doch anders als Jimmy habe ich alle Läufe aufmerksam beobachtet. Die Hindernisse sind jedes Mal anders. Ich blicke wachsam um mich. Vor mir tut sich ein Loch mit Schlamm auf. In letzter Sekunde bemerke ich es und mache einen Satz darüber. Ich spüre förmlich das hämische Lächeln aus dem Gesicht des Jungens aus Distrikt 1 verschwinden. Ich biege um die Ecke. Was jetzt kommt, weiß ich nicht. Kurz verlangsamere ich mein Tempo, um analysieren zu können, was kommt. Es ist dunkel, wie schon im ersten Gang, wahrscheinlich ist der ganze Parcours nur schwach beleuchtet. Ich sehe nur einen langen Gang und lege wieder an Tempo zu.
Der erste Balken trifft mich nur durch pures Glück nicht. Im ersten Moment will ich mein Tempo drosseln. Dann sehe ich das herablassende Lächeln des Jungen aus Distrikt 1 vor mir. Ich darf ihm nicht auch noch eine schlechte Zeit von mir gönnen. Ich muss es darauf ankommen lassen. Ich werde noch schneller. Weiche geschickt aus. Kein Fehler darf passieren. Der letzte Balken schnellt aus der Wand. Verschwitzt, und wie von der Tarantel gestochen, weiche ich nach rechts aus. Jetzt habe ich die nächste Ecke erreicht. Ich laufe eine gefährlich scharfe Kurve und renne weiter. Kein Hindernis kommt von der Seite, kein Loch tut sich auf. Vielleicht soll ich hier nur durchrennen. Mir ist es egal. Hauptsache ich komme hier durch. Vorne kann man schon das Ende sehen. Ich lege noch einmal an Tempo zu. Dann geschieht alles wie in Zeitlupe. Ein Seil, ungefähr auf Höhe meiner Brust, spannt sich 10 Meter vor mir auf, mir in den Weg. Ich schaue nach unten, will mich ducken, doch da ist nur ein Loch. Es gibt nur eine Möglichkeit: Hochsprung. Aber da ist keine Matte. Wenn ich mit dem Rücken aufkomme, wird da zwar etwas sein, das meinen Schlag abfedert, aber ich werde Strafsekunden bekommen und das darf nicht passieren. Also muss ich mit den Füßen aufkommen. Einen Salto in fast unmöglicher Höhe machen. Das habe ich noch nie geschafft. Viele Nachmittage haben ich und Jimmy das versucht. Beziehungsweise hat Jimmy versucht, es mir beizubringen und ich, es zu lernen. Ich habe es aber nicht geschafft. Ich werde es auch dieses Mal nicht schaffen. Aber ich muss es versuchen. Ich darf nicht aufgeben. Mit meinem linken Fuß stoße ich mich ab, drehe mich in der Luft. Das Seil habe ich nicht berührt, aber das war der einfache Teil. Jetzt muss ich mich so drehen, dass ich in der richtigen Richtung und sicher auf beiden Füßen lande. Und plötzlich handle ich einfach instinktiv. Mein Körper weiß irgendwoher, was zu tun ist, obwohl er es vorher nie wusste. Und ich lande auf beiden Füßen, als würde ich das schon immer machen. Sofort renne ich weiter, setze Fuß vor Fuß. Dann ertönt das Signal, ich habe die Schranke durchlaufen. Verschwitzt, zitternd und völlig außer Atem, emotional am Ende stehe ich einfach da. Traue mich nicht, auf meine Zeit zu gucken. Während des Parcours habe ich jedes Zeitgefühl verloren. Aber ich muss es wissen. Langsam drehe ich den Kopf zur Anzeigetafel. Die Uhr ist bei 45 Sekunden stehen geblieben. Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als ich sehe, wie der Junge aus Distrikt 1 so tut, als habe er es gar nicht bemerkt. Ich will gerade weitergehen, als ein schriller Pfiff ertönt. Lila hat in ihre Trillerpfeife geblasen. "Das Training ist für heute beendet", ruft sie. Langsam trotten alle 24 Tribute zum Ausgang. Als wir im Aufzug stehen, umarmt Jimmy mich. "Du warst großartig", flüstert er. Doch langsam kehrt meine Bestürzung über Emilia zurück. Ich nicke nur und sage ein halbherziges "Danke".

Joanne und Sam stehen schon am Fahrstuhlausgang und warten auf uns. Aber Jimmy zieht mich an ihnen vorbei. "Gleich, wir müssen nur kurz was besprechen", sagt er und schiebt mich in sein Zimmer. Dort setzt er sich neben mich aufs Bett. "Wer ist da?", fragt er sanft und legt dabei einen Arm um mich. Ich muss mehrmals meine Tränen herunterschlucken, bevor ich antworten kann. "Emilia." "Wie? Als Spielmacher?" Ich schüttele den Kopf. Er wird das schwer verkraften können, sie waren im Kapitol zusammen und sind es noch. "Nein." Jetzt kommen die Tränen doch. Jimmy umarmt mich fest. "Als Avox." Das letzte, was ich sehe, bevor die Tränen die Welt völlig verschleiern, ist Jimmy, der sich, die Augen weit aufgerissen, die Hand vor den Mund schlägt.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now