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Einmal haben mich ein paar Freundinnen im Kapitol dazu animiert, seitwärts mit ihnen eine Rutsche runterzurutschen. Ich kam auf meinem Rücken auf, bekam keine Luft mehr und konnte mich nicht mehr bewegen. Genauso geht es mir jetzt. Ich kann nichts tun. Nur ein erstickter Laut kommt aus meiner Kehle, den Jimmy aber nicht als Warnung interpretieren wird. Ich wende mich ab. Ich habe versagt. Jetzt kann ich nicht einmal zusehen, wie er stirbt. 
Ein Laut ertönt, wie aufeinandertreffendes Metall. Jetzt muss es passiert sein. Langsam drehe ich mich um. Jimmy steht noch da, wo er vor einer Minute stand. Das Schwert hält er vor seinen Körper. Auf dem Boden liegt das Messer. Ich will auf ihn zu rennen, ihn umarmen, als sich der Tribut, der uns attackiert hat, zu erkennen gibt. Der Junge aus Distrikt 2 stürmt auf Jimmy zu, ein weiteres Messer in der Hand. Nicht mehr ganz so böse schaut er mit einem Pfeil in der Kehle. Er sinkt einen Meter von Jimmy entfernt auf die Knie. Jimmy starrt ihn nur an, während er stirbt. Die Kanone ertönt. "Sind hier noch mehr?", ruft Alex,"dann kommt raus! Wir haben keine Angst vor euch!" Aber wenn da noch mehr waren, haben sie sich schon aus dem Staub gemacht. Jimmy geht zum Versteck des Jungen, niemand mehr da. Ich gehe währenddessen zur Leiche und durchsuche sie nach wichtigen Resourccen. Zwei Gurte Messer, eine Packung Cracker. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das die gesamte Nahrung der Karrieros sein soll. Kein weiteres Wasser, sicher alles im Lager. Ich hoffe, wir sind nicht direkt vor der Haustür der Karrieros. Das ist alles, was der Junge hat. Wir entfernen uns von seinem Körper, damit das Hovercraft ihn aus der Arena holen kann. Ich umarme Jimmy. "Ich dachte, es wäre aus", sage ich. Jimmy lächelt geheimnisvoll. "Tja, da musst du dich wohl noch gedulden", sagt er. Ich lächele und hoffe, dass er es nicht so meint. "Was hast du denn da?", fragt mein Bruder. "Nur ein paar Messer. Hätte sie dem Hovercraft überlassen sollen", murmele ich. Jimmy schüttelt den Kopf. "Nein, probier mal. Vielleicht klappt's ja diesmal", meint er aufmunternd. Ich werfe Alex einen unsicheren Blick zu, doch der nickt nur bekräftigend. "Ja, versuch nur." Ich zucke mit den Schultern. Es wird nicht klappen. Es hat einmal nicht geklappt, warum sollte es jetzt gehen? Ich nehme ein Messer aus dem ersten Gürtel und suche nach einem guten Ziel. "Wo soll ich denn verdammt nochmal hinwerfen?", frage ich. "Da hinten ist ein Astloch in der Hauswand", ruft Alex. Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu. "Das soll ich treffen? Gut, wenn ich geworfen habe, musst du schießen. Von weiter weg!" "Nur, wenn du triffst", antwortet Alex herausfordernd. Ich zucke mit den Schultern. Das hat sich dann wohl erledigt. Das Haus, auf dessen Wand ich werfen soll ist vielleicht 10 Meter von mir weg, 15 könnte auch sein. Ich werde nicht treffen. Mach dir nichts draus, Lilly. Lass die Jungs ihren Spaß haben und dann wird alles weitergehen. Ich spanne meinen Arm nicht einmal an, als ich lustlos werfe. Das Messer landet dementsprechend im Staub. "Ein bisschen Mühe musst du dir schon geben", kommentiert  Jimmy von hinten. Ich rolle mit den Augen. Manchmal muss man ihn mögen, um nicht sofort auf ihn loszugehen. Ich hebe das Messer auf und stelle mich etwas gerader hin. Meine Augen fixieren diesmal sogar das Ziel. Dann werfe ich das Messer und versuche tatsächlich, das Ziel zu treffen.

Was mir auch gelingt.

Von hinten ertönt Applaus. "Zugabe", ruft Jimmy. Ich gehe zum Messer und ziehe es heraus, gehe aber nicht weiter auf ihn ein. Ich gehe zu Alex hin. "Your turn", sage ich und stelle mich selbstbewusst hin. Doch eigentlich könnte ich tanzen. Ich kann doch etwas! Ich habe getroffen! Ich habe eine Chance! Alex spannt seinen Bogen und trifft. Er muss das wirklich schon ewig machen, bei ihm wirkt es so leicht. Jimmy und ich jubeln, als mir wieder einfällt, wo wir überhaupt sind. "Verdammt, Jimmy, wir sind in den Hungerspielen! Leise", flüstere ich panisch. Jimmys Lächeln erstirbt. Dann ist es wieder da. "Spaß haben muss man schon mal. Lasst uns reingehen und noch was trinken. Lilly, hast du deine Messer? Es müsste bald die Sonne untergehen..." Ich schüttele den Kopf und gehe die Gurte aufsammeln. Sie sind etwas dreckig vom Staub der Straße. Den, aus dem ich das Messer genommen habe, lege ich um, den anderen nehme ich erstmal in die Hand. Dann folge ich den anderen ins Haus. Als ich sie trinken sehe, merke ich erst, wie durstig ich bin und ich stürze mich geradezu auf die eigene Flasche. Draußen wird es immer dunkler. Bald wird die Hymne ertönen und wir werden den Jungen aus Distrikt 2 sehen. Eine weitere Kanone habe ich heute nicht gehört, aber wer weiß, ob nicht vielleicht noch gestern Nacht jemand getötet wurde. Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass nicht oder dass schon. Eigentlich müsste ich mich freuen, wenn ein weiterer Tribut gestorben ist. Ein Gegner weniger. Aber ich will nicht, dass ein weiterer Mensch sein Leben lassen muss. Wir alle sind unschuldig. Wir werden für unsere Herkunft bestraft. Nach unserer Meinung zur Politik hat uns niemand gefragt. Aber jetzt kann ich daran nichts ändern.

Die Hymne weckt mich aus meinem schläfrigen Zustand. Wir drei stürzen nach draußen. Der Junge aus 2 erscheint. Niemand sonst. Ich befürchte, die restlichen Karrieros werden uns nicht so vor die Füße laufen. Okay, Jimmy wäre jetzt tot, wenn er das Messer nicht abgewehrt hätte. Wie er das geschafft hat, wird mir wohl mein Leben lang ein Rätsel bleiben, was ja nicht mehr so sehr lang wäre. Aber letztendlich konnte Alex den Karriero ohne größere Probleme töten.
Ein Toter am zweiten Tag. Das wird dem Publikum nicht mehr lange reichen. Wenn nicht irgendwer in einen Kampf verwickelt wird, werden die Spielmacher bald nachhelfen.

Es wird kalt draußen. Ich folge Jimmy nach drinnen, wo er sich sofort in seinen Schlafsack einwickelt. "Ich geh schlafen. Gute Nacht, Lilly! Nimm den anderen Schlafsack", murmelt er schläfrig. "Wollen wir nicht noch unser Zeug zusammenpacken? Falls was passiert?" Jimmy winkt ab. "Morgen ist auch noch ein Tag", murmelt er, dann ist er eingeschlafen. Ich will mich gerade selber hinlegen, als Alex sagt:"Du hast recht. Ich helfe dir, wenn du willst." Inzwischen ist es so dunkel, dass ich kaum seine Umrisse ausmachen kann. "Gerne", sage ich und stehe wieder auf. Während wir so auf dem Boden hocken, kann ich sogar im Dunkeln sein Lächeln erkennen. "Warum lächelst du?", frage ich so leise wie möglich. "Keine Ahnung", flüstert er zurück,"du bringst mich nun mal manchmal zum Lächeln." Da muss ich selber lächeln. "Darf ich das als Kompliment sehen?" "Kannst du halten, wie du willst. Wo soll mein Rucksack hin?" "Da hinten, zu Jimmys", antworte ich etwas enttäuscht. Ich hätte mich gern noch weiter mit Alex unterhalten. "Warum bist du traurig?", fragt er plötzlich. "Woher weißt du das?" Er zuckt mit den Schultern. "War nur so ein Gefühl." "Ach na dann. Was ist dein Plan für morgen?" "Keine Ahnung. Hier bleiben, wenn es möglich ist. Sich ein bisschen einrichten. Und wenn möglichin Ruhe gelassen werden von den anderen, du?" "Keine Ahnung." Wir schweigen eine Weile. "Alex?", frage ich irgendwann. "Hm?" "Macht es dir nichts aus, zwei Menschen getötet zu haben?" Das ist eine sehr unangebrachte Frage in den Hungerspielen, aber ich muss sie ihm stellen. "Ich versuche, mich so wenig wie möglich damit auseinanderzusetzen. Es geht sicher nicht einfach an mir vorbei, aber manchmal muss ich auch an mich zuerst denken. Oder eben an uns. Die anderen töten auch, alleine kann man das nicht stoppen. Manchmal bist es eben entweder du oder der Gegner. Und dann muss es der Gegner sein." Ich denke darüber nach. Hat er recht? Wahrscheinlich schon. Ich gähne einmal. "Lass uns schlafen gehen", sage ich müde. Alex nickt, soweit ich das erkennen kann. Ich rolle meinen Schlafsack wieder aus und versuche, zu schlafen. Jimmy schnarcht leise. Irgendwann schnarcht auch Alex. Nur ich schaue dem Mond beim Wandern zu. Ich denke noch einmal über Alex' Worte nach. Ich bin froh, dass ich noch niemanden töten musste, aber es könnte bald soweit sein. Ich denke an Sally. Ob sie schon schläft? Ins Bett musste sie sicherlich schon, aber so wie ich sie kenne, liegt sie wach und hofft. Hofft auf ein Wunder. Ich weiß, dass sie unsere Rückkehr will wie kein anderer. Warum ich aber nur an Sally denke, bleibt mir ein Rätsel. Irgendwann ist der Gedanke an zu Hause zu schmerzhaft und ich schließe die Augen und versuche, an nichts zu denken. Irgendwann übermannt mich der Schlaf.

Ich wache von Hitze auf. Ich bin schweißgebadet. Hatte ich einen Albtraum? Nein, ich kann mich an keinen erinnern. Irgendein Geräusch dringt an mein Ohr, dass ich nicht identifizieren kann. "Lilly? Was ist hier los?", ruft irgendjemand. Ich muss husten. Vielleicht ist das hier ja der Albtraum. Aber dafür fühlt es sich viel zu echt an. "Lilly, wach auf!" Jemand schüttelt mich. Endlich öffne ich die Augen. "Lilly, wir müssen hier raus!" Jimmy ist das erste, was ich sehe. Verwundert blicke ich mich um. Und was ich sehe, verschlägt mir den Atem. Offensichtlich wurde heute Nacht niemand in einen Kampf verwickelt. "Oh mein Gott", keuche ich, dann muss ich husten. Rauch versperrt mir den Blick. Unser Lager steht in Flammen.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now