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Der Mann packt mich am Arm. Stumm gehen wir den Gang entlang. Je länger wir gehen, desto lauter wird der Applaus. Sie alle warten nur auf mich, den ersten Teil des Zwillingspaars aus Distrikt 5. Der letzte Teil des mir unendlich vorkommenden Wegs zur Bühne ist eine Treppe. Der Mann bleibt an ihrem Fuß stehen und bedeutet mir, hinaufzugehen. Zögernd betrete ich die erste Stufe. Mit Treppen hatte ich nie ein besonders enges Verhältnis. Als kleines Mädchen bin ich einmal eine Treppe von ganz oben heruntergefallen und habe eine Narbe am Kinn davongetragen. Seitdem habe ich eine panische Angst vor mir unbekannten Treppen. Fall jetzt nicht hin, Lilly, fall nicht hin!
Jetzt bin ich auf der letzten Stufe angelangt. Nur noch ein Schritt trennt mich von der Öffentlichkeit. Wahrscheinlich sind jetzt schon die Kameras auf mich gerichtet. Ich spüre, wie der Schweiß ausbricht und mein Herz klopft. Lächeln, Lilly, lächeln! Ich hatte noch nie so viel Angst. Doch ich muss jetzt mutig wirken. Für Jimmy. Ich mache den letzten Schritt und stehe direkt im Scheinwerferlicht. Julius Barnes steht ein paar Meter von mir entfernt und mit Schritten, die so selbstsicher sind, wie ich es in diesem Moment schaffe, gehe ich auf ihn zu. Er schüttelt meine schweißige Hand und ich kann von Glück reden, dass ich nicht abgerutscht bin. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich mich setzen solle und genau das tue ich. Als auch er Platz genommen hat, sehe ich ihn zum ersten Mal von Nahem. Er hat kurze, braune Haare und kräftige Augenbrauen. Die hellblauen Augen haben einen hohen Wiedererkennungswert und die hohen Wangenknochen passen zum Gesamtbild. Er trägt einen schwarzen Anzug und sieht insgesamt besser aus als sein Vorgänger Caesar Flickerman. Julius beginnt sofort mit den Fragen und ich versuche, mich so gut es geht zu konzentrieren. "Lilly, erst einmal herzlich willkommen. Bist du denn aufgeregt?" Jetzt darf ich nicht schwach wirken. "Nicht besonders", erwidere ich also mit einem Lächeln und versuche mit aller Kraft, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. "Dann können wir ja gleich anfangen. Deine Eröffnungsparade hat uns alle umgehauen. So etwas hat es noch nie gegeben. Wer hatte die Idee dazu?" Hilfesuchend blicke ich mich um. Soll ich die Wahrheit sagen oder lügen? Irgendwo entdecke ich Pauls schönes Gesicht. Er nickt. Gut. "Mein Stylist, Paul. Aber er hat mich selbst entwerfen lassen." Julius schaut beeindruckt. "Und wie kam es dann, dass eure Kostüme perfekt aufeinander abgestimmt waren?" Ich lächele geheimnisvoll. "Nicht vergessen, wir sind Zwillinge!" Ich habe keine Ahnung, ob ich Julius Siezen soll oder nicht, aber solange ich darum herumkomme, ist das kein großes Problem. "Ja, das ist auch unser nächstes Thema. Dein Distriktpartner ist unpraktischerweise dein Zwillingsbruder. Die Ernte hat uns alle sehr berührt, richtig?" Ein paar Zustimmungsrufe aus dem Publikum. "Was hast du nun vor, Lilly?" Jetzt darf ich die Wahrheit sagen. Sei ehrlich, Lilly. "Ich will ihn durchbringen. Ohne Jimmy ist mein Leben sowieso nicht mehr lebenswert." Wieder kommen ein paar berührte Rufe aus der Menge. "Hast du denn ein paar Geschichten aus eurer Kindheit, die du erzählen willst?" Nein, habe ich nicht. Erstens will ich sie nicht erzählen, zweitens fällt mir keine Geschichte ein. Dann kommt mir eine Idee. "Nun, ich würde ja gern, aber ich will Jimmy ja nicht zu viel vorwegnehmen", antworte ich und versuche, dabei möglichst bekümmert zu klingen. Julius nickt. "Das kann ich natürlich verstehen. Nur noch eine letzte Frage: Bei der Eröffnung habt ihr beide typische Klamotten von Kapitolbewohnern getragen, heute ist dein Kleid sehr schlicht. Wie kommt das?" Langsam entspanne ich mich auf der Bühne. Ich lasse mir etwas Zeit, bevor ich antworte. "Es gab nicht nur die bunten Leute im Kapitol. Da haben auch Menschen gelebt, die zur Schule gegangen sind. Die gegen Snow waren. Die ein total normales Leben geführt haben." Ein Ton ertönt und mein Interview ist vorbei. Ich habe es geschafft.
Mit kleinen Schritten verlasse ich die Bühne. Das Publikum jubelt noch und während ich die Treppe wieder herunter gehe, höre ich noch, wie Jimmy angekündigt wird. Mir fällt auf, dass ich keine Ahnung habe, was Jimmy bei den Interviews vorhat. Ich lasse mich am besten überraschen.
Mein Zwillingsbruder begegnet mir auf dem Gang. Er lächelt mir einmal kurz zu und ich sehe den Stolz in seinen Augen. Jimmy wirkt überhaupt nicht aufgeregt, sondern einfach entspannt. Er freut sich darauf. Manchmal kann auch ich ihn nicht verstehen.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora