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Als die Kanone ertönt, geben meine Beine nach. Ich habe ihn getötet. Ich habe gegen alle meine Vorsätze verstoßen. Ich wende meinen Blick zu Alexander. Er sieht geschockt aus. "Warum... warum hast du das getan?", fragt er. Tränen sammeln sich in meinen Augen. "Du hättest mich töten sollen", flüstert er. Ich kann ihm jetzt nicht antworten, dass ich ihn liebe. Es wäre albern. Momentan liebe ich gar nichts. Aber ich hasse die Welt dafür, dass ich ein Teil von ihr sein sollte. Und ich hasse mich dafür, dass ich das hier tun konnte. "Verabschiede dich von ihm", sagt Alexander und deutet auf Jimmys Körper, der neben mir auf dem Boden liegt. In seiner Brust steckt ein Messer. Mein Messer. Ich ziehe es heraus. Blut quillt aus der Wunde. Ich reiße ein Stück Stoff von meinem T-Shirt und decke sie damit zu. In Sekundenschnelle ist der Stoff blutdurchtränkt. Ich reiße einen weiteren Streifen ab und lege ihn darüber. So lange mache ich das, bis endlich kein Blut mehr zu sehen ist. Das Messer schleudere ich wütend von mir.

Jimmys linke Hand ist zur Faust geballt. Ich öffne sie sanft. Zum Vorschein kommt eine kleine Münze. Ich nehme sie in die Hand und betrachte sie genauer. Jimmy und Emilia sind darauf zu sehen, beide lächeln. Darunter steht: Jimmy & Emilia. Ich schluchze laut auf. Nicht nur Jimmys Leben ist vorbei. Auch Emilia hat jetzt niemanden mehr, den sie lieben kann.
Ich beuge mich zu Jimmys Gesicht vor. Ich streiche ihm seine Haare aus dem Gesicht. Seine schönen Engelshaare. Jetzt haben sie nichts engelsgleiches mehr an sich. Dann, von Schluchzern geschüttelt, schließe ich ihm die Augen. Ich weiß, dass ich sie mein ganzes Leben lang vor mir sehen werde. Jimmys schöne blaue Augen. Ich wünschte, sie wären nicht so einprägsam gewesen.

Auf Jimmys Lippen liegt ein Lächeln. Ich streiche einmal über sie, dann über sein ganzes Gesicht. Seine Haut ist weich wie Samt, aber nicht mehr so warm und trostspendend. "Jimmy, es tut mir so leid", schluchze ich. Aber er lächelt nur immer weiter. Er antwortet mir nicht. Er wird mir nie mehr antworten. Ich werde seine Stimme nie mehr hören. Ich werde nie mehr seinen Gang sehen. Über seine Witze lachen. Mit ihm weinen. Mit ihm kämpfen. Wir haben so viel zusammen durchgestanden. Wir waren die letzten Tribute der Hungerspiele. Er hat immer an mich geglaubt. Er hat mich immer über sich selbst gestellt. Und zum Schluss habe ich ihn umgebracht.
Ich schaue wieder auf die Münze. Sein Andenken von zu Hause. Emilia. Nicht einmal das Versprechen, das ich ihr gegeben habe, konnte ich halten.
Ich beuge mich zu seinem Ohr herunter. "Emilia liebt dich, Jimmy", flüstere ich. "Und ich tue das auch." Dann, mit einem letzten Kuss auf seine Stirn stehe ich auf und entferne mich langsam. Das ist das letzte Mal, dass ich ihn je sehen werde.

Eigentlich habe ich ihm gesagt, ich werde für ihn singen. Eigentlich sollte ich jetzt singen. Aber ich kann nicht. Ich kann keinen Ton herausbringen. Ich kann nur weinen.

Nachdem das Hovercraft Jimmys Körper aus der Arena geholt hat, ertönen die Fanfaren. Ich kann nur hoffen, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich sie je höre. "Bürger von Panem! Wir präsentieren Ihnen die Sieger der 76. Hungerspiele: Lilly Eisenberg aus Distrikt 5 und Alexander Frazier aus Distrikt 7!", ertönt die Stimme. Das, was ich verspüre, ist keine Freude, wie ich sie eigentlich erwartet hatte. Oder zumindest Erleichterung. Ich fühle mich leer. Ich fühle mich schlecht. Für mich sind 22 Menschen gestorben. Ein Schrei durchschneidet die Stille. Er kommt aus meiner Kehle.  
Alexander umschließt mich mit seinen Armen. "Alles wird gut, Lilly", flüstert er. Aber er lügt. Es kann nie mehr gut werden.
Ein zweites Hovercraft landet vor uns und zwei Leitern werden ausgefahren. Alexander schiebt mich langsam zu einer hin und führt meine Hände zu den Sprossen, wo sie sofort nicht mehr abzulösen sind. Dann geht er selbst zu der anderen Leiter. Er wirft mir ein letztes Lächeln zu, ein schwaches Lächeln, dann werden die Leitern eingefahren und wir gelangen mit ihnen nach oben.

Wir sind beide kaum verletzt. Trotzdem stehen vor uns, als wir das Hovercraft betreten, mindestens fünf Ärzte. Ich versuche, mich zu wehren, als sie mich verarzten wollen, für mich sind sie nichts anderes als die Hovercrafts, die die Arena bombadiert haben. Eine Gefahr, die ich überleben muss. Alexander fasst mich am Arm. "Sie tun dir nichts, Lilly", sagt er. "Doch!", schreie ich mit Tränen in den Augen. "Sie haben mir schon etwas getan! Sie haben mir Jimmy genommen!" Einer der Ärzte zieht mich einfach davon, danach erinnere ich mich an nichts mehr.

Als ich das nächste Mal aufwache, ist um mich herum nur weiß. Weiße Wand, weißer Boden, weißes Bettlaken. In meinem Arm steckt ein durchsichtiger Schlauch. Wo bin ich? Und langsam fällt mir alles wieder ein... Ich war in den Hungerspielen. Ich war unter den letzten fünf Tributen. Alexander hat Hanna getötet. Ich habe Justin ins Feuer gestoßen. Und dann habe ich Jimmy getötet. Alexander und ich haben gewonnen. Wo ist er? Lebt er noch? Ich will aufstehen, doch plötzlich fühle ich mich ganz schläfrig...

Ich bin immer noch in dem weißen Raum. Aber der Schlauch ist verschwunden. Stattdessen liegen auf dem Boden meine Arenaklamotten. Die Tribute müssen ihrem Team immer in dieser Kleidung gegenüber treten. Aber ich will mein Team eigentlich nicht sehen. Sam und Joanne, Isabella, Jenny und Lauren, sie alle habe ich enttäuscht. Du musst, Lilly, befehle ich mir selber. Also schlüpfe ich in das T-Shirt, von dem nur noch die Hälfte übrig ist. Die andere Hälfte befindet sich in Streifen gerissen auf Jimmys Brust. Darüber das Sweatshirt. Dann die Jacke. Die Jeans, an der Stelle, wo sie am Anfang der Hungerspiele das Feuer in der Hütte berührt hat. Zum Schluss die Turnschuhe. Ganz unten liegt der Eisenberg-Ring. Ich streife mir die Kette über, atme einmal tief durch und gehe dann durch die Tür.

Der erste, den ich in die Arme schließe, ist Sam. Er wuschelt mir einmal kurz durch die Haare. Dann umarmt Joanne mich. Und zum Schluss mein ganzes Vorbereitungsteam. Als wir uns fertig begrüßt haben, stelle ich mich vor sie hin. "Jimmy sollte auch hier stehen", murmele ich. Und zum ersten Mal seit ich aus der Arena raus bin, sagt jemand die Wahrheit. "Ja, das sollte er", sagt Sam. Er sieht mir dabei fest in die Augen. "Aber wir werden damit leben müssen." Naja, ich werde damit leben müssen. Die anderen können sich ja kaum Schuldgefühle machen. Höchstens zu unrecht.

Alexander sehe ich erst wieder, als wir auf der Interviewbühne stehen.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now