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"Ihr wollt nicht auffallen, verstanden? Eine 6 ist okay, versucht, das zu erreichen", schärft Joanne uns beim Frühstück ein. Heute ist der Tag der Einzeltrainings. Jimmy wirft mir kurz einen genervten Blick zu. Das ist das ungefähr fünfte Mal, dass sie uns das erzählt und langsam weiß ich, was wir machen sollen. Ich bin gut ausgeschlafen, gestern bin ich schon früh ins Bett gegangen. Nach dem Training habe ich mich etwas mit Jimmy unterhalten, dann waren wir beide beim Abendessen. Kurz danach lag ich schon im Bett. Jimmy will ich nichts von Emilias Besuch erzählen. Gestern kam sie auch noch mal und ich habe sie ausdrücklich gebeten, Jimmy nicht über den Weg zu laufen. Ich kann nur hoffen.

"Was soll ich denn nun vorführen?", frage ich, weil ich selbst keine Idee habe, andererseits will ich Joanne eine Freude machen und mich interessiert zeigen. "Nun, Lilly, du kannst wie wir alle wissen, gut rennen. Mach aber nicht zu schnell. Etwas schneller als der Durchschnitt, du willst nicht auffallen! Nachdem ihr alles durchprobiert habt, wissen wir, dass du dich mit keiner Waffe hast anfreunden können. Welche, denkst du, liegt dir da noch am meisten?" Ich werfe Jimmy einen Blick zu und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich selbst habe keine Ahnung. "Bogenschießen hat, würde ich sagen, noch am besten geklappt", meint er nachdenklich. "Hab ich doch von Anfang an gesagt", raunt er mir zu. Ich schaue ihn an, meinen Zwillingsbruder und unwillkürlich stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Obwohl wir Konkurrenten sein sollten, ich bin einfach nur stolz auf ihn. "Ich könnte auch noch klettern", schlage ich vor. Was spricht dagegen? "Gute Idee, aber wie gesagt." Jetzt muss auch ich ein Augenrollen unterdrücken. "Dann würde ich sagen, Lilly, du beginnst mit Schießen, weil du da noch am frischsten bist. Dann rennst du die Bahn entlang, es gibt doch eine, oder?" Auf unser Nicken fährt sie fort. "Zum Schluss kletterst du dann noch die Kletterwand hoch, das dürfte eigentlich reichen." Ich bin einverstanden. "Mit Jimmy habe ich mich gestern Abend schon angesprochen, also jetzt ab mit euch und viel Glück." Zusammen gehen wir zum Fahrstuhl. Für die Einzeltrainings hat Paul, vielleicht war es auch Margaret, mir extra Klamotten designet. Ich trage ein etwas weiteres, dunkelblaues T-Shirt, wieder mit dem Kapitolwappen und meiner Unterschrift hinten drauf. Die Hose ist nahezu die gleiche. Mein Haar ist zu einem straff Zopf gebunden, das hat Paul diesmal selbst gemacht, meine Zöpfe werden immer lose. Auch den Eisenberg-Ring hat er  um meinen Hals gelegt.

Sam begleitet uns zum Fahrstuhl. Während wir darauf warten, dass der Aufzug unser Stockwerk erreicht, stehen wir einfach stumm da. Als ein Plingen die Ankunft des Lifts ankündigt, kann ich nicht anders, als Sam zu umarmen. Er schließt mich sofort in die Arme. "Viel Glück. Ihr schafft das schon", murmelt er, bevor ich mich aus der Umarmung löse und durch die Fahrstuhltüren gehe.

Vor den Türen zur Halle sind zwei lange Bänke aufgestellt, die erste für die Distrikte 1 bis 6, die zweite für 7 bis 12. Stumm sitzen wir alle da, warten, bis wir aufgerufen werden. Ich hätte eine Jacke mitnehmen, nur im kurzen T-Shirt fange ich schnell an, zu frieren. Ich unterdrücke mit aller Kraft den Impuls, mich an Jimmy zu kuscheln, vor allen anderen lässt mich das nur schwach wirken und das darf nicht geschehen. "Wilkinson, Justin", ruft eine computergenerierte Frauenstimme den Jungen aus Distrikt 1 auf. Nach etwa einer Viertelstunde geht auch das Mädchen. Nach insgesamt etwa zwei Stunden ertönt "Eisenberg, Jim". Jimmy drückt einmal meine Hand, dann erhebt er sich und geht gefasst in die Halle. Ohne ihn ist es noch viel kälter. Ich zittere und weiß nicht, ob es wegen der Kälte ist oder doch wegen der Aufregung. Ich rufe mir noch mal alles ins Gedächtnis, was Joanne mir erzählt hat. Wie ich mich verhalten soll. In welcher Reihenfolge ich agieren soll.

"Eisenberg, Lilly", sagt die mechanische Stimme. Jetzt ist es soweit. Genauso mechanisch wie die Stimme stehe ich auf. Mein Puls steigt. Mein Herz klopft. Wie ist es wohl bei Jimmy gelaufen? Mit einem dumpfen Ton fällt die schwere Tür hinter mir zu. Jetzt stehe ich allein vor den Spielmachern. Ja, da oben ist Emilia. Ich meine, so etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht aufhuschen sehen, aber weil sie den Kopf gesenkt hat, habe ich mir es wohl nur eingebildet. Trotzdem flößt es mir Mut ein und ich werde ein wenig ruhiger. Die Blicke der Spielmacher sind starr auf mich gerichtet. Es sind ungefähr 25, vorrangig Männer. So, Lilly, jetzt zeigst du ihnen alles, wie Joanne es dir gesagt hat. Aber ich weiß nichts mehr. Die Spielmacher haben mich völlig durcheinander. Sofort fange ich wieder an, zu zittern und muss schlucken. Schweiß bricht aus. Womit wollte ich noch mal anfangen? Speerwurf? Nein, Rennen! Ach nein, etwas, wozu ich ruhig sein muss. Ich stehe immer noch am gleichen Fleck wie vor zwei Minuten. Ich blicke hoch, schaue zu Emilia. Aber sie hat den Kopf nur gesenkt und scheint nichts vom Geschehen hier unten mitzubekommen. Aber ich weiß, dass das nicht so ist. Als ich kein Zeichen von ihr wahrnehme, lasse ich den Blick durch den Raum gleiten. Da sehe ich die Bögen am silbernen Ständer hängen. Klar, Bogenschießen. Dann Rennen und zum Schluss Klettern. Erleichtert gehe ich zu den silbernen Waffen hin. Spanne die Sehne an, lege den Pfeil ein. Dann fliegt er auf die Puppe zu.

Nach mehreren mittelmäßigen Schüssen, was besser als alles war, was ich mir je erträumt hatte, gehe ich zur Rennbahn. Einmal habe ich die Puppe sogar am Kopf getroffen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Aber ich weiß, dass mir das in der Arena nie gelingen würde. Ich wäre, mal wieder, viel zu aufgeregt dazu.
Kaum berühre ich das raue Material der geraden, etwa 200 Meter langen Bahn, wird das Adrenalin durch meinen Körper gepumpt. Ich habe Lust, zu laufen, meinen Körper auszupowern. Doch, und das rufe ich mir immer wieder in Erinnerung, ich darf es nicht übertreiben. Ich begebe mich in Startposition. Meine Hände berühren beide den Boden. Ich stelle mir den Startschuss einfach vor und renne los. Schritt für Schritt. Ich sehe mich vor, nicht zu schnell zu werden. Doch kaum berührt mein linker Fuß den Boden, hat er schon wieder abgehoben. Ich kann mich kaum kontrollieren, ich weiß, dass ich es übertreibe. Ich brauche die 6. Es gibt nur eine Möglichkeit. Hinfallen. Meine Haare wehen im Wind, ich bin kurz vor dem Ende. Mit Absicht trete ich mir selbst auf den Fuß und falle so ungeschickt wie möglich hin. Ich spüre bereits ein paar Schrammen am linken Arm. Jetzt muss ich relativ schnell wieder aufstehen und weiterrennen. Verdammt, Lilly, zügel dein blödes Temperament!

Ich jogge weiter zur Kletterwand. Nur noch das fehlt, dann hab ich es hinter mir. Du schaffst das!, rede ich mir selbst ein. Ich setze den Fuß in die erste Kerbe und arbeite mich langsam nach oben. Je weiter oben ich bin, desto längere Pausen mache ich. Mit Absicht. Ich muss außer Atem wirken, als ob es mich total anstrengen würde. Ich klettere bis ganz oben, als ich mich auf die Plattform ziehe, merke ich, wie sehr mir die ganze Kletterpartie zugesetzt hat. Naja, dann wirkt es zumindest echt.
Auf der Rückseite der Kletterwand kann man sich einfach abseilen. Genau das tue ich und bin, zugegeben, ziemlich erleichtert, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Der Oberste Spielmacher, man erkennt ihn an dem purpurroten Gewand, steht nun vor seinem Platz auf. "Du darfst nun gehen, Lilly Eisenberg", sagt er mit einer gewichtigen Stimme. Ohne ein Zögern verlasse ich die Halle, erleichtert, aber trotzdem noch nicht völlig abgeregt. Ich weiß noch nicht, ob ich mein Ziel wirklich erreicht habe.

"Na, wie lief es?", fragt Jimmy als er mal wieder unaufgefordert in mein Zimmer platzt. "Ganz okay", murmele ich. "Guck mal, in meinem Bücherregal stand Sherlock Holmes." Jimmys Augen leuchten auf. "Echt?" "Ja, guck!" Ich halte das Buch hoch, das ich im Schoß halte. Es ist eine nagelneue Ausgabe von "Eine Studie in Scharlachrot". "Zeig her", ruft Jimmy und reißt mir das Buch aus der Hand. Ich finde seine kindliche Begeisterung zu sehenswert, um zu protestieren und so lasse ich ihn machen. Mit jeder Seite, die er liest, leuchten seine schönen Augen ein bisschen mehr. "Toll", bringt er nur heraus.
Als ich ihn noch eine Weile lesen lassen habe, unterbreche ich ihn. "Wie lief denn dein Training?" "Ach, ganz okay." Unsere Unterhaltung wird durch Sam gestört, der den Kopf durch die Tür steckt. "Gleich kommt die Punktevergabe. Wir warten schon alle auf euch. Los jetzt!" Das angenehme an Sam ist, dass er nie nachfragt, wie etwas gelaufen ist, sondern die Dinge einfach ihren Lauf nehmen lässt. Wir folgen ihm in den Fernsehraum. Unser ganzes Team sitzt schon auf den bequemen Sofas rund um den Flachbildfernseher. Wir setzen uns dazu und schon fängt Julius Barnes, der neue Caesar Flickerman an, zu reden. "Panem. Heute Abend ist es endlich soweit. Die Spielmacher haben uns die Punkte mitgeteilt, die jeder Tribut der 76. Hungerspiele erhält und ich werde sie nun verkünden." Die Karrieros haben alle 8 bis 10 Punkte. "Jim Eisenberg erreichte eine Punktzahl von 7. Seine Schwester wurde unter der 6 eingestuft." Wir beide atmen auf. Ziel erreicht. Weiter passiert nichts Spektakuläres.

Abends schlafe ich ein mit dem Bild von einem Pfeil, de den Kopf einer Puppe durchbohrt, die ein menschliches Gesicht hat. Und ich weiß, dass das eigentlich nicht so sein sollte. So schläft kein 15jähriges Mädchen ein.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt