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Als unser Wagen nach draußen fährt, verstummt der Jubel zuerst. Das hier ist nicht der Sinn der 76. Hungerspiele. Wir, das Kapitol soll gedemütigt werden. Wir sollen die neue Regierung nicht austricksen, wir einfältigen Kapitolaner sollen ausgetrickst werden. Doch dann brechen sie in Jubel aus. Skandieren unsere Namen, wie schon am Morgen. Nur, dass es diesmal viel mehr Menschen sind. Und dass sie nicht die einzigen sind, die uns sehen. Die ganze Nation hat die Augen auf uns gerichtet. Vielen wird es gefallen, glaube ich, viele wird es erstaunen, und viele werden erzürnt sein. Ich hoffe nur, dass es ein paar Sponsoren gibt, die Gefallen an unserem Auftreten gefunden haben. Ich grinse Jimmy verstohlen an. Er lächelt zurück. Wir fassen uns an den Händen. Ich werfe Küsschen in die tobende Menge. Dann frage ich mich, ob sie zu Hause auch so jubeln. Oder ob sie immer noch trauern. Ob sie wohl geschockt sind, uns zu sehen, wie uns im Moment Millionen andere auch sehen können, so weit entfernt von ihnen, und ob sie traurig darüber sind, dass mindestens eines der Kinder in Kapitolklamotten nie mehr nah bei ihnen sein wird. Aber das werde ich nie erfahren. Weil ich diejenige sein werde, die sie bie wieder direkt vor sich haben werden. Aber jetzt möchte ich einfach meinen kleinen, eigenen Moment voll auskosten.
Viel zu schnell haben wir das Podium erreicht, auf dem unsere neue Präsidentin steht: Präsidentin Paylor. Als auch der Wagen der Tribute aus Distrikt 12 angehalten hat, tritt sie ans Mikrofon. "Tribute!", schallt ihre raue, tiefe Stimme über den Platz. "Wir begrüßen euren Mut und eure Opferbereitschaft und heißen euch willkommen zu den 76. Hungerspielen Panems. Wie jedes Jahr sprechen eure Kostüme wieder für sich." Während dieses Satzes habe ich das untrügliche Gefühl, dass sie uns anschaut. "Doch jetzt wollen wir euch erstmal aus der Öffentlichkeit entlassen und ins extra errichtete Trainingscenter geleiten. Guten Abend, Panem!" Dann reißt sie ihre Faust in die Höhe, das Publikum jubelt. Unsere Pferde traben zu den Toren, ein letztes Mal hören wir das Gejubel der Menschen, dann schließen die Tore hinter uns. Als wir vom Wagen springen, umarmt mich Joanne. Diesmal haben alle Tribute dasselbe Tor gehabt, durch das sie gefahren sind. Ich spüre mehrere feindselige Blicke, besonders von den Karrieros. Wir gehen zum Fahrstuhl, doch kurz bevor sich die Türen schließen, meine ich so etwas wie ein Lächeln des Jungen aus Distrikt 7 zu sehen, das in meine Richtung geht. Aber das muss ich mir eingebildet haben, er ist nichts als ein Konkurrent. Wir kennen uns nicht einmal. Kennen auch nicht unsere Namen.
Morgen beginnt das Training. 3 Tage haben wir Zeit, uns vorzubereiten. Dann müssen wir zeigen, was wir können. Und dann sind die Interviews. Und dann... dann... dann müssen wir in die Arena. So viele werden sterben. Und Jimmy wird übrig bleiben. Er wird alleine auf dem Sessel sitzen, die Siegerkrone auf dem Kopf. Sich die Highlights der Spiele anschauen. Wird mich und sich selbst auf dem Wagen sehen, Hand in Hand, lächelnd, in Kapitolklamotten. Wird meinen Tod sehen. Wird alleine nach Hause zurückkehren. Will er das wirklich? Ja, jeder hier will nach Hause, wieso sollte Jimmy es nicht wollen?
Doch solange die Spiele nicht begonnen haben, habe ich Hoffnung. Hoffnung, dass das alles nur ein Trick sein soll. Dass wir dann wieder zurückdürfen, als hätten wir nur einen Urlaub gemacht. Vielleichtist es ja wirklich so. Die Menschen hier haben 75 Hungerspiele mit ansehen müssen und waren dagegen. Wieso wollen sie es dann noch einmal? Noch einmal 23 junge, unschuldige Menschen sterben sehen? Celestia kann kaum älter als 13 sein, und der Junge aus Distrikt 9 ist auch höchstens 12 und unglaublich zart. Sie haben beide keine Chance. Finnick Odair hat seine Hungerspiele mit 14 Jahren gewonnen und das grenzte trotz seiner Wendigkeit mit dem Dreizack an ein Wunder. Jimmy und ich haben mit 15 auch nicht die allerbesten Chancen aber wir sind robust gebaut und sportlich, was man von den unteren Distrikten nicht unbedingt sagen kann.
Nach einem eher schlichten Abendessen gehe ich ins Bett. Ich bin erstens müde, zweitens möchte ich morgen ausgeschlafen sein. Die Erwachsenen unterhalten sich noch. Ich höre gedämpft ihre Stimmen durch die Wand. Und trotz meiner Müdigkeit kann ich nicht einschlafen. Es liegt auch nicht an Joanne, Sam, Margaret und Paul. Sie kann ich leicht ausblenden. Irgendwann weiß ich, was mir fehlt: Die Wärme eines anderen Körpers. Also fasse ich mir ein Herz und klopfe an Jimmys Zimmertür. Früher habe ich das immer gemacht, wenn ich Alpträume hatte. Nur dass es damals Harrys Tür war, die von ihm daraufhin geöffnet wurde. Wenn er sah, dass ich es war, war die Wut über das unsanfte Aufwecken sofort verraucht und das Harry-Lächeln stahl sich auf sein hübsches Gesicht. Harry war immer das Sternchen. In der Schule waren alle Mädchen hinter ihm her, die Jungs nach Mary und, ganz selten, nach mir. Jedenfalls hatte Harry dieses Lächeln, das jedes Mädchen verrückt machte. Ich wurde nicht selten mit "Hey, bist du nicht Harrys Schwester?" angesprochen, was mich jedes Mal wieder mit Stolz erfüllte.
Doch dieses Mal ist es nicht Harry, der verschlafen durch die Tür guckt, es ist Jimmy, und verschlafen ist er auch nicht. "Komm rein, Lilly. Kannst du auch nicht schlafen?" "Du hast es erfasst, Mr Sherlock Holmes!" Das sind seine Lieblingsbücher, und obwohl sie schon uralt und in einer seltsam gewählten Sprache verfasst sind, hat er sie immer wieder gelesen und mich mit seiner Begeisterung angesteckt. Wir hatten ein Ordner voller Inhaltsangaben der Geschichten in verschiedenen Sprachen, die wir in der Schule lernten. Alle selbst verfasst und mit unzähligen Grammatikfehlern, aber das war uns egal, es machte Spaß und das war die Hauptsache.
Jimmy lächelt. Nicht so perfekt wie Harry früher, aber es erfüllt mich mit Wärme. Ich setze mich auf sein Bett. "Gehen wir schlafen?", frage ich nach einer Weile peinlicher Stille. "Nix dagegen. Willst du an die Wand?" Ich nicke und decke mich zu. Er legt sich neben mich und wärmt meinen zitternden Körper auf. Bald höre ich sein leises Schnarchen, bevor ich auch selbst in den lang ersehnten Schlaf sinke.
"Uhhhh, läuft da was?", ist das erste, was ich höre. Und obwohl ich die Stimme nicht sofort zuordnen kann, weiß ich, dass das nur Sam gewesen sein kann. Ich schlage die Augen auf und sehe Jimmys Rücken. Langsam richte ich mich auf und blinzele ein paar Mal, um scharf sehen zu können. Ja, ich wusste es. Sam steht mit belustigtem Blick vor uns. Ich spiele mit. "Ja, das hab ich gebraucht." "Ich seh's..." dann schüttelt er in gespielter Bestürzung den Kopf. "Gleich gibt es Frühstück. Joanne will mit euch die Trainingsstrategien besprechen. Keine Ahnung was das soll." Er rollt mit den Augen. Ich lächele und lehne mich an Jimmys Schulter. "Paul und Margaret haben euch Trainingsklamotten dagelassen. Aber deine, Lilly, liegen in deinem eigenen Zimmer." Ich versuche, ein bestürztes Gesicht zu machen, doch alles, was ich erreiche, ist, dass sich Sam einen Ast lacht über meine Grimasse. Schauspielern war noch nie meine Stärke. Aber das werde ich in der Arena sicher brauchen...
Auf dem Sessel in meinem Zimmer liegt ein Bündel Klamotten. Paul hat für mich ein schwarzes Tanktop und eine schwarze Leggings zurechtgelegt. Als ich die Sachen anziehe, passen sie sich perfekt an meinen Körper an. Zum Frühstück ziehe ich ein dunkelblaues Sweatshirt über das Top. Doch erst als ich im verspiegelten Kleiderschrank stehe, sehe ich das Kapitolwappen auf meinem Rücken. Darunter ist meine Unterschrift. Wo er die her hat, will ich gar nicht wissen. Nachdem ich meine Haare gewaschen, geföhnt und zum Zopf geflochten habe, gehe ich runter. Das ist mein erstes Frühstück in Distrikt 13. Ein riesiges Buffet erwartet mich und nachdem ich meinen Teller mit Pfannkuchen und einer ganzen Reihe Marmeladensorten beladen habe, setze ich mich neben meinen Bruder. "Ich denke nicht, dass ihr voreinander etwas zu verbergen hättet, richtig?" Wir nicken beide. "Könnt ihr irgendetwas besonders gut?" "Hmm... wir sind beide relativ schnell", meint Jimmy nachdenklich, während ich meinen Kopf verzweifelt nach etwas zu durchsuchen versuche, das mir in den Hungerspielen irgendeinen Nutzen erbringen könnte. Ich finde nichts. "Dann empfehle ich euch, jede Station zu besuchen und bei jeder ungefähr die gleiche Zeit zu bleiben. Selbst wenn euch etwas sehr gut oder gar nicht liegt, bleibt da ungefähr genauso lange wie bei anderen Stationen auch. Lasst euch nichts anmerken." Wir nicken noch einmal. "Klingt nicht schwer", meine ich, versuche dabei aber vor allem, mir selbst Mut zu machen. "Habt ihr denn euer nettes Accessoire auf euren Oberteilen bemerkt?", fragt Sam, Paul und Margaret sind gar nicht da. "Ja, sehr schick. Besonders der Junge aus 1 wird sich freuen", füge ich ironisch hinzu. "Ja, er wird uns sicher eine Menge Komplimente machen", meint Jimmy trocken,"ist aber schick. Gefällt mir." "Ich werde es ihnen ausrichten", meint Sam. "Vielleicht. Vielleicht sag ich ihnen auch, dass ihr es gar nicht bemerkt habt." "Das traust du dich nicht", necke ich ihn. Er neigt den Kopf. "Stimmt." Er lächelt mir zu.
Als es Zeit ist, zu gehen, renne ich noch einmal hoch in mein Zimmer. Vor dem Spiegel mache ich mir die Kette des Eisenberg-Rings um den Hals. Dann renne ich die Treppe wieder herunter. Auf dem Weg zum Aufzug, der uns in die Trainigshalle bringen soll, fasse ich Jimmy an der Hand. "Wir sind doch Verbündete, oder?", flüstere ich ihm ins Ohr. "Wir sind immer Verbündete", flüstert er.
Unsere Mentoren und Betreuer dürfen nicht mit in die Halle. Vor dem Aufzug umarmen wir uns alle. Dann schließen sich die Türen und Jimmy und ich sind alleine.
Wir betreten zögernd die Trainingshalle. Blicken hinauf zur Loge der Spielmacher. Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Doch, kein Zweifel: Dort, in der Uniform der Avoxe, den Kopf geneigt, die Hände vor dem Bauch gefaltet, steht meine eigentliche beste Freundin: Emilia.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now