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Wir entscheiden uns, Jimmy erst einmal nichts zu erzählen. Ich weiß nicht, ob es vielleicht nur eine Nacht war und darauf nichts folgen wird und will Jimmy deshalb nicht unnötig beunruhigen. Natürlich habe ich das Alex nicht so gesagt. Aber ich glaube, er hat mich verstanden. "Was machen wir denn heute?", fragt Jimmy. "Ich würde ganz gerne hier bleiben", antworte ich,"und mich ein bisschen einrichten. Hier ist ja eigentlich alles perfekt." "Ja, das stimmt schon halbwegs", meint Alex. Dabei zwinkert er mir zu, um mir zu zeigen, das für ihn alles perfekt ist. Ich lächele zurück. Also bleiben wir in unserem beschaulichen Lager und versuchen, uns irgendwie die Zeit zu vertreiben. Ich ende auf einem der Bäume, die unsere Lichtung umgeben. Auf einem Ast ein paar Meter über dem Boden mache ich es mir bequem. Unten auf dem Boden sitzen Jimmy und Alex und unterhalten sich leise. Sie lachen plötzlich, offenbar hat einer der beiden einen Witz gemacht. Es gefällt mir, ihnen so zuzuschauen. Sie wirken wie gute Freunde. Vielleicht sind sie das auch. Aus Alex' und Jimmys Beziehung werde ich wohl nie schlau werden... Ich lehne mich an den Baumstamm, falte die Hände über dem Bauch und schließe die Augen.

"Hey, Lilly", flüstert mir Alex ins Ohr. Ich öffne ein Auge. "Was ist?", frage ich. Alex lacht. "Es ist ungefähr vier Uhr nachmittags, Lilly, du hast den kompletten Tag verschlafen und du fragst, was los ist?", fragt er,"hast du noch nicht an den Himmel geguckt?" "Dein Kopf war im Weg", gebe ich müde zurück,"was habt ihr den ganzen Tag gemacht?" "Ich hab an dich gedacht", sagt Alex und ich spüre wieder das gute Gefühl im Bauch. Alex wirft kurz einen Blick nach unten und als er sich vergewissert hat, dass Jimmy nicht hochschaut, gibt er mir einen kurzen Kuss auf die Stirn. "Lass uns jetzt runter gehen", sagt er,"ich klettere vor." Man kann nicht sagen, dass ich schlecht klettern kann, ich bin mit Leichtigkeit den Baum hier hochgekommen, aber gegen Alex bin ich ein Anfänger. Ich werfe einen Blick in die Tiefe und sehe gerade noch, wie Alex das letzte Stück zurücklegt und dann auf dem Boden steht. Ich blinzele drei Mal, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume, aber er war wirklich so schnell. Ein Eichhörnchen hätte es nicht besser machen können. Alex schaut nach oben und scheint sich Sorgen zu machen, deshalb klettere ich so schnell wie möglich vom Baum herunter und versuche, so geübt wie möglich zu wirken. Als auch ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, suche ich die Umgebung nach Jimmy ab. "Wo bist du, Jimmy?", rufe ich leise und bald darauf bricht mein Bruder aus dem Gebüsch. "Hier", sagt er locker,"ich war kurz am Bach. Gut geschlafen?" Ich nicke kurz, dann schaue ich zu Alex. "Wo hast du das bitte gelernt?", frage ich ihn. "Was soll er gelernt haben?", schaltet sich Jimmy wieder ein. "Er klettert wie ein Eichhörnchen", erkläre ich knapp und warte weiter auf Alex' Antwort. "Lilly, ich komme aus Distrikt 7, Holz. Wo soll ich das sonst gelernt haben? Im Kapitol die Hauswand hochgeklettert?" Ich lache. "Du kannst schließlich auch Bogenschießen", wende ich ein,"weiß ich, was du noch so getrieben hast, als du im Kapitol warst." "Willst du nicht wissen...", murmelt Alex und ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst meint oder nur aus Spaß sagt, deshalb schweige ich. "Habt ihr heute eine Kanone gehört?", frage ich dann, um das Thema zu wechseln. Beide schütteln den Kopf. "Kein Toter heute", meint Jimmy,"schade eigentlich." Bei dieser Bemerkung zucke ich förmlich zusammen. Ich kann nichts weiter tun, als hoffen, dass er das nur des Publikums wegen sagt, aber der Jimmy, den ich kenne, kann nicht gut genug schauspielern, um es so echt wirken zu lassen. Also sage ich nichts.

Später am Nachmittag gehe ich mit Alex zum Bach. Er hat seine Bögen alle mitgenommen und hält Ausschau nach Wild, während ich meine Haare wasche. Ich lege mich auf einen Stein und halte mein Gesicht der untergehenden Sonne entgegen. Ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus und als Alex wiederkommt, legt er sich neben mich. "Magst du das Leben?", fragt er. "Ja", hauche ich. "Warum lebst du es dann nicht?" "Ich lebe doch mein Leben..." "Aber du willst es nur noch ein paar Tage leben. Warum ziehst du es nicht durch? Ich werde dir nicht im Weg stehen. Du bist stark genug, du könntest gewinnen!" "Weil... weil ich es nicht aushalten könnte, dass wegen mir mein Zwillingsbruder sterben musste", sage ich. Er schweigt. "Warum gewinnst du nicht einfach?", frage ich. "Ich will das nicht. Ich will nicht die blöde Tour der Sieger und den ganzen Mist", sagt er leise, in der Hoffnung, dass sie unsere Unterhaltung ausblenden. "Ich will nicht vor den trauernden Angehörigen und Freunden von 23 Toten stehen. Schon gar nicht vor deinen Verwandten und Freunden." "So viele sind da nicht mehr von übrig", murmele ich trocken. "Ich will nicht gefeiert werden müssen, obwohl alle mich hassen", fährt er fort, ohne auf meinen Kommentar einzugehen,"Ich will kein Symbol werden. Lieber sterbe ich hier drin. Außerdem weiß ich, dass es dein Wunsch ist, dass Jimmy hier gewinnt und das respektiere ich. Und ich bin bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um diesen Wunsch zu erfüllen." "Danke", flüstere ich, "danke." Wir genießen noch eine Weile die Stille und ich gehe die Unterhaltung zwischen Alex und mir noch einmal im Kopf durch. Warum habe ich Alex gefragt, ob er nicht gewinnen will? Es ist mein Wunsch, dass Jimmy gewinnt. Das war er von Anfang an. Und es hat sich daran bis jetzt nichts daran geändert. Oder? Doch, genau so ist es. Die Frage an Alex habe ich nur im Redefluss gestellt.

"Hatte ich doch recht mit der Romanze?", höre ich Jimmys Stimme rufen. Ich drehe mich in die Richtung, aus der ich sie gehört habe und sehe Jimmy zu unserem Stein schlendern. Panisch versuche ich, einen Blick von Alex aufzufangen und glücklicherweise versucht er genau das gleiche. Ich deute ein Kopfschütteln an und hoffe inständig, dass er versteht, was ich meine. "Nein, keine Angst", sagt Alex schnell, sieht Jimmy aber nicht in die Augen. "Na dann ist ja gut", sagt Jimmy unbekümmert, er scheint nichts bemerkt zu haben. Im Stillen danke ich Gott, falls es ihn denn gibt, dafür, dass Jimmy keinen Verdacht schöpft.  "Hast du was geschossen, Alex?" Dieser hält ein Kaninchen in die Luft, das ich noch gar nicht bemerkt hatte. "Mehr hab ich nicht gesehen", erklärt er,"aber fürs Erste wird das reichen." "Wie wollen wir das dann eigentlich braten?", frage ich. Jimmy legt den Kopf schief, wie immer wenn er nachdenkt. "Ich würde es riskieren", meint er dann,"wir sind stark, haben Wasser und Nahrung und eine Menge Waffen." "Früher oder später werden wir sowieso mit ihnen konfrontiert werden. Jetzt geht es uns wirklich gut, ich finde, Jimmy hat recht", fügt Alex hinzu. Ich zucke mit den Schultern. "Wenn ihr meint... Hier könnten wir aber trotzdem draufgehen", gebe ich zu bedenken. "Mir egal", sagt Jimmy nur. Die Hymne ertönt. Keine Toten heute. Wie Jimmy und Alex gesagt haben. Wir trennen uns, um Feuerholz zu sammeln.

Das Lagerfeuer knistert. Wir sitzen nah beieinander, wärmen unsere Hände an den Flammen. Alex' Gesicht ist ganz rot von der Hitze, aber er lächelt. Das Kaninchen schmeckt ganz okay. Es ist etwas angebrannt, Jimmy sollte es eigentlich überwachen, aber irgendwie ist es unser Essen. Das erste, das wir selbst gefangen haben. Irgendwie finde ich, dass es unser Bündnis symbolisiert. Es kommt kein Karriero. Kein anderer Tribut. Kein Tier. Kein Sponsorengeschenk. Auch keine Durchsage, dass die Hungerspiele vorbei sind. Kein Aufwachen, das mir signalisiert, dass alles nur ein Traum war.

Ich werde immer müder. Meinen Kopf habe ich auf Jimmys Schulter gelegt, doch irgendwann steht mein Bruder auf. "Ich geh nochmal zum Bach", verkündet er, dann macht er sich auf den Weg. Alex und ich bleiben zurück. "Möchtest du schon schlafen, Lilly?", fragt er. Ich nicke und schlüpfe in meinen Schlafsack. "Erzähl mir was", fordere ich ihn auf. "Was denn?", fragt er nur, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ein 15jähriges Mädchen, das auch noch Tribut in den 76. Hungerspielen ist und außerdem noch relativ weit kommen könnte, ihn um eine Gutenachtgeschichte bittet. "Das erste, was dir einfällt." Er setzt sich neben mich. "Als wir noch im Kapitol gelebt haben, war mein Vater Journalist. Und als ich älter wurde, hat er mich auch immer Artikel schreiben lassen." "Wie alt warst du damals?", frage ich. Er überlegt. "Ungefähr so alt wie du. Die Zeitung, bei der mein Vater gearbeitet hat, hat jedes Jahr einen Wettbewerb ausgetragen, für den besten Artikel. Einer der Kollegen meines Vaters hat den jedes Jahr gewonnen und war total verrückt danach, den ein weiteres Jahr zu gewinnen. Ich hab unter dem Kürzel meines Vaters geschrieben..." "Was ist ein Kürzel?", frage ich. "Eine Abkürzung, meistens von deinem Namen, die aus drei Buchstaben besteht. Dieses Kürzel schreibt man statt des vollen Namens unter die Artikel", erklärt er,"jedenfalls wusste keiner, dass ich ein paar Artikel geschrieben habe. Und am Ende des Jahres..." Der Schlaf übermannt mich.

Ich wache davon auf, dass ein Zweig knackt.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Where stories live. Discover now